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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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IV.
Sorgfalt des Staats für das negative Wohl der Bürger, für ihre
Sicherheit.

Diese Sorgfalt ist nothwendig, -- macht den eigentlichen Endzweck des Staats
aus. -- Höchster, aus diesem Abschnitt gezogener Grundsatz. -- Bestätigung
desselben durch die Geschichte.

Wäre es mit dem Uebel, welches die Begierde der Menschen,
immer über die, ihnen rechtmässig gezogenen Schranken in
das Gebiet andrer einzugreifen 1), und die daraus entspringende
Zwietracht stiftet, wie mit den physischen Uebeln der Natur,
und denjenigen, diesen hierin wenigstens gleichkommenden
moralischen, welche durch Uebermaass des Geniessens oder
Entbehrens, oder durch andere, mit den nothwendigen Bedin-
gungen der Erhaltung nicht übereinstimmende Handlungen
auf eigne Zerstörung hinauslaufen; so wäre schlechterdings
keine Staatsvereinigung nothwendig. Jenen würde der Muth,
die Klugheit und Vorsicht der Menschen, diesen die, durch
Erfahrung belehrte Weisheit von selbst steuern, und wenigstens
ist in beiden mit dem gehobenen Uebel immer Ein Kampf
beendigt. Es ist daher keine letzte, widerspruchlose Macht
nothwendig, welche doch im eigentlichsten Verstande den Begriff
des Staats ausmacht. Ganz anders aber verhält es sich mit
den Uneinigkeiten der Menschen, und sie erfordern allemal
schlechterdings eine solche eben beschriebene Gewalt. Denn
bei der Zwietracht entstehen Kämpfe aus Kämpfen. Die

1) Was ich hier umschreibe, bezeichnen die Griechen mit dem einzigen
Worte pleonexia, für das ich aber in keiner andern Sprache ein völlig gleich-
bedeutendes finde. Indess liesse sich vielleicht im Deutschen: Begierde nach
Mehr
sagen; obgleich dies nicht zugleich die Idee der Unrechtmässigkeit an-
deutet, welche in dem griechischen Ausdruck, wenn gleich nicht dem Wortsinne,
aber doch (so viel mir wenigstens vorgekommen ist) dem beständigen Gebrauch
der Schriftsteller nach, liegt. Passender, obgleich, wenigstens dem Sprach-
gebrauche nach, wohl auch nicht von völlig gleichem Umfang, möchte noch
Uebervortheilung sein.
IV.
Sorgfalt des Staats für das negative Wohl der Bürger, für ihre
Sicherheit.

Diese Sorgfalt ist nothwendig, — macht den eigentlichen Endzweck des Staats
aus. — Höchster, aus diesem Abschnitt gezogener Grundsatz. — Bestätigung
desselben durch die Geschichte.

Wäre es mit dem Uebel, welches die Begierde der Menschen,
immer über die, ihnen rechtmässig gezogenen Schranken in
das Gebiet andrer einzugreifen 1), und die daraus entspringende
Zwietracht stiftet, wie mit den physischen Uebeln der Natur,
und denjenigen, diesen hierin wenigstens gleichkommenden
moralischen, welche durch Uebermaass des Geniessens oder
Entbehrens, oder durch andere, mit den nothwendigen Bedin-
gungen der Erhaltung nicht übereinstimmende Handlungen
auf eigne Zerstörung hinauslaufen; so wäre schlechterdings
keine Staatsvereinigung nothwendig. Jenen würde der Muth,
die Klugheit und Vorsicht der Menschen, diesen die, durch
Erfahrung belehrte Weisheit von selbst steuern, und wenigstens
ist in beiden mit dem gehobenen Uebel immer Ein Kampf
beendigt. Es ist daher keine letzte, widerspruchlose Macht
nothwendig, welche doch im eigentlichsten Verstande den Begriff
des Staats ausmacht. Ganz anders aber verhält es sich mit
den Uneinigkeiten der Menschen, und sie erfordern allemal
schlechterdings eine solche eben beschriebene Gewalt. Denn
bei der Zwietracht entstehen Kämpfe aus Kämpfen. Die

1) Was ich hier umschreibe, bezeichnen die Griechen mit dem einzigen
Worte πλεονεξια, für das ich aber in keiner andern Sprache ein völlig gleich-
bedeutendes finde. Indess liesse sich vielleicht im Deutschen: Begierde nach
Mehr
sagen; obgleich dies nicht zugleich die Idee der Unrechtmässigkeit an-
deutet, welche in dem griechischen Ausdruck, wenn gleich nicht dem Wortsinne,
aber doch (so viel mir wenigstens vorgekommen ist) dem beständigen Gebrauch
der Schriftsteller nach, liegt. Passender, obgleich, wenigstens dem Sprach-
gebrauche nach, wohl auch nicht von völlig gleichem Umfang, möchte noch
Uebervortheilung sein.
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[44/0080] IV. Sorgfalt des Staats für das negative Wohl der Bürger, für ihre Sicherheit. Diese Sorgfalt ist nothwendig, — macht den eigentlichen Endzweck des Staats aus. — Höchster, aus diesem Abschnitt gezogener Grundsatz. — Bestätigung desselben durch die Geschichte. Wäre es mit dem Uebel, welches die Begierde der Menschen, immer über die, ihnen rechtmässig gezogenen Schranken in das Gebiet andrer einzugreifen 1), und die daraus entspringende Zwietracht stiftet, wie mit den physischen Uebeln der Natur, und denjenigen, diesen hierin wenigstens gleichkommenden moralischen, welche durch Uebermaass des Geniessens oder Entbehrens, oder durch andere, mit den nothwendigen Bedin- gungen der Erhaltung nicht übereinstimmende Handlungen auf eigne Zerstörung hinauslaufen; so wäre schlechterdings keine Staatsvereinigung nothwendig. Jenen würde der Muth, die Klugheit und Vorsicht der Menschen, diesen die, durch Erfahrung belehrte Weisheit von selbst steuern, und wenigstens ist in beiden mit dem gehobenen Uebel immer Ein Kampf beendigt. Es ist daher keine letzte, widerspruchlose Macht nothwendig, welche doch im eigentlichsten Verstande den Begriff des Staats ausmacht. Ganz anders aber verhält es sich mit den Uneinigkeiten der Menschen, und sie erfordern allemal schlechterdings eine solche eben beschriebene Gewalt. Denn bei der Zwietracht entstehen Kämpfe aus Kämpfen. Die 1) Was ich hier umschreibe, bezeichnen die Griechen mit dem einzigen Worte πλεονεξια, für das ich aber in keiner andern Sprache ein völlig gleich- bedeutendes finde. Indess liesse sich vielleicht im Deutschen: Begierde nach Mehr sagen; obgleich dies nicht zugleich die Idee der Unrechtmässigkeit an- deutet, welche in dem griechischen Ausdruck, wenn gleich nicht dem Wortsinne, aber doch (so viel mir wenigstens vorgekommen ist) dem beständigen Gebrauch der Schriftsteller nach, liegt. Passender, obgleich, wenigstens dem Sprach- gebrauche nach, wohl auch nicht von völlig gleichem Umfang, möchte noch Uebervortheilung sein.

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/80>, abgerufen am 24.11.2024.