Lage, und auf den schiebt, der dieser die Form gab. Kommt nun noch dazu, dass er die Absichten des Staats nicht für völ- lig rein hält, dass er nicht seinen Vortheil allein, sondern wenigstens zugleich einen fremdartigen Nebenzweck beabsichtet glaubt, so leidet nicht allein die Kraft, sondern auch die Güte des moralischen Willens. Er glaubt sich nun nicht bloss von jeder Pflicht frei, welche der Staat nicht ausdrücklich auflegt, sondern sogar jeder Verbesserung seines eignen Zustandes überhoben, die er manchmal sogar, als eine neue Gelegenheit, welche der Staat benutzen möchte, fürchten kann. Und den Gesetzen des Staats selbst sucht er, soviel er vermag, zu ent- gehen, und hält jedes Entwischen für Gewinn. Wenn man bedenkt, dass bei einem nicht kleinen Theil der Nation die Gesetze und Einrichtungen des Staats gleichsam den Umfang der Moralität abzeichnen; so ist es ein niederschlagender An- blick, oft die heiligsten Pflichten und die willkührlichsten Anordnungen von demselben Munde ausgesprochen, ihre Ver- letzung nicht selten mit gleicher Strafe belegt zu sehen. Nicht minder sichtbar ist jener nachtheilige Einfluss in dem Betragen der Bürger gegen einander. Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hülfe des Staats verlässt, so und noch weit mehr übergiebt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Theilnahme, und macht zu gegenseitiger Hülfs- leistung träger. Wenigstens muss die gemeinschaftliche Hülfe da am thätigsten sein, wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass auf ihm allein alles beruhe, und die Erfahrung zeigt auch, dass gedrückte, gleichsam von der Regierung verlassene Theile eines Volks immer doppelt fest unter einander verbunden sind. Wo aber der Bürger kälter ist gegen den Bürger, da ist es auch der Gatte gegen den Gatten, der Hausvater gegen die Familie.
Sich selbst in allem Thun und Treiben überlassen, von jeder fremden Hülfe entblösst, die sie nicht selbst sich ver-
Lage, und auf den schiebt, der dieser die Form gab. Kommt nun noch dazu, dass er die Absichten des Staats nicht für völ- lig rein hält, dass er nicht seinen Vortheil allein, sondern wenigstens zugleich einen fremdartigen Nebenzweck beabsichtet glaubt, so leidet nicht allein die Kraft, sondern auch die Güte des moralischen Willens. Er glaubt sich nun nicht bloss von jeder Pflicht frei, welche der Staat nicht ausdrücklich auflegt, sondern sogar jeder Verbesserung seines eignen Zustandes überhoben, die er manchmal sogar, als eine neue Gelegenheit, welche der Staat benutzen möchte, fürchten kann. Und den Gesetzen des Staats selbst sucht er, soviel er vermag, zu ent- gehen, und hält jedes Entwischen für Gewinn. Wenn man bedenkt, dass bei einem nicht kleinen Theil der Nation die Gesetze und Einrichtungen des Staats gleichsam den Umfang der Moralität abzeichnen; so ist es ein niederschlagender An- blick, oft die heiligsten Pflichten und die willkührlichsten Anordnungen von demselben Munde ausgesprochen, ihre Ver- letzung nicht selten mit gleicher Strafe belegt zu sehen. Nicht minder sichtbar ist jener nachtheilige Einfluss in dem Betragen der Bürger gegen einander. Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hülfe des Staats verlässt, so und noch weit mehr übergiebt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Theilnahme, und macht zu gegenseitiger Hülfs- leistung träger. Wenigstens muss die gemeinschaftliche Hülfe da am thätigsten sein, wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass auf ihm allein alles beruhe, und die Erfahrung zeigt auch, dass gedrückte, gleichsam von der Regierung verlassene Theile eines Volks immer doppelt fest unter einander verbunden sind. Wo aber der Bürger kälter ist gegen den Bürger, da ist es auch der Gatte gegen den Gatten, der Hausvater gegen die Familie.
Sich selbst in allem Thun und Treiben überlassen, von jeder fremden Hülfe entblösst, die sie nicht selbst sich ver-
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Lage, und auf den schiebt, der dieser die Form gab. Kommt
nun noch dazu, dass er die Absichten des Staats nicht für völ-
lig rein hält, dass er nicht seinen Vortheil allein, sondern
wenigstens zugleich einen fremdartigen Nebenzweck beabsichtet
glaubt, so leidet nicht allein die Kraft, sondern auch die Güte
des moralischen Willens. Er glaubt sich nun nicht bloss von
jeder Pflicht frei, welche der Staat nicht ausdrücklich auflegt,
sondern sogar jeder Verbesserung seines eignen Zustandes
überhoben, die er manchmal sogar, als eine neue Gelegenheit,
welche der Staat benutzen möchte, fürchten kann. Und den
Gesetzen des Staats selbst sucht er, soviel er vermag, zu ent-
gehen, und hält jedes Entwischen für Gewinn. Wenn man
bedenkt, dass bei einem nicht kleinen Theil der Nation die
Gesetze und Einrichtungen des Staats gleichsam den Umfang
der Moralität abzeichnen; so ist es ein niederschlagender An-
blick, oft die heiligsten Pflichten und die willkührlichsten
Anordnungen von demselben Munde ausgesprochen, ihre Ver-
letzung nicht selten mit gleicher Strafe belegt zu sehen. Nicht
minder sichtbar ist jener nachtheilige Einfluss in dem Betragen
der Bürger gegen einander. Wie jeder sich selbst auf die
sorgende Hülfe des Staats verlässt, so und noch weit mehr
übergiebt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber
schwächt die Theilnahme, und macht zu gegenseitiger Hülfs-
leistung träger. Wenigstens muss die gemeinschaftliche Hülfe
da am thätigsten sein, wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass
auf ihm allein alles beruhe, und die Erfahrung zeigt auch, dass
gedrückte, gleichsam von der Regierung verlassene Theile
eines Volks immer doppelt fest unter einander verbunden sind.
Wo aber der Bürger kälter ist gegen den Bürger, da ist es
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Familie.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/58>, abgerufen am 17.07.2024.
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