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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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Gang der menschlichen Entwicklung stört, durch das, was noch
von dem vorhergehenden in der Wirklichkeit, oder in den
Köpfen der Menschen übrig ist, modificirt, verändert, entstellt.
Ist aber dies Hinderniss aus dem Wege geräumt, kann der nun
beschlossene Zustand der Dinge, des vorhergehenden und der,
durch denselben bewirkten Lage der Gegenwart ungeachtet,
seine volle Wirkung äussern; so darf auch nichts mehr der
Ausführung der Reform im Wege stehen. Die allgemeinsten
Grundsätze der Theorie aller Reformen dürften daher vielleicht
folgende sein:
1. Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal
alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis
diese in ihrem ganzen Umfange dieselben nicht mehr hin-
dert, diejenigen Folgen zu äussern, welche sie, ohne alle
fremde Beimischung, immer hervorbringen würden.
2. Um den Uebergang von dem gegenwärtigen Zustande
zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, soviel
möglich, jede Reform von den Ideen und den Köpfen der
Menschen ausgehen.

Bei den, im Vorigen aufgestellten, blos theoretischen Grund-
sätzen war ich zwar überall von der Natur des Menschen aus-
gegangen, auch hatte ich in demselben kein ausserordentliches,
sondern nur das gewöhnliche Maas der Kräfte vorausgesetzt;
allein immer hatte ich ihn mir doch bloss in der ihm nothwen-
dig eigenthümlichen Gestalt, und noch durch kein bestimmtes
Verhältniss auf diese oder jene Weise gebildet, gedacht. Nir-
gends aber existirt der Mensch so, überall haben ihm schon die
Umstände, in welchen er lebt, eine positive, nur mehr oder
minder abweichende Form gegeben. Wo also ein Staat die
Gränzen seiner Wirksamkeit, nach den Grundsätzen einer
richtigen Theorie, auszudehnen oder einzuschränken bemüht
ist, da muss er auf diese Form eine vorzügliche Rücksicht neh-
men. Das Missverhältniss zwischen der Theorie und der Wirk-

Gang der menschlichen Entwicklung stört, durch das, was noch
von dem vorhergehenden in der Wirklichkeit, oder in den
Köpfen der Menschen übrig ist, modificirt, verändert, entstellt.
Ist aber dies Hinderniss aus dem Wege geräumt, kann der nun
beschlossene Zustand der Dinge, des vorhergehenden und der,
durch denselben bewirkten Lage der Gegenwart ungeachtet,
seine volle Wirkung äussern; so darf auch nichts mehr der
Ausführung der Reform im Wege stehen. Die allgemeinsten
Grundsätze der Theorie aller Reformen dürften daher vielleicht
folgende sein:
1. Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal
alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis
diese in ihrem ganzen Umfange dieselben nicht mehr hin-
dert, diejenigen Folgen zu äussern, welche sie, ohne alle
fremde Beimischung, immer hervorbringen würden.
2. Um den Uebergang von dem gegenwärtigen Zustande
zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, soviel
möglich, jede Reform von den Ideen und den Köpfen der
Menschen ausgehen.

Bei den, im Vorigen aufgestellten, blos theoretischen Grund-
sätzen war ich zwar überall von der Natur des Menschen aus-
gegangen, auch hatte ich in demselben kein ausserordentliches,
sondern nur das gewöhnliche Maas der Kräfte vorausgesetzt;
allein immer hatte ich ihn mir doch bloss in der ihm nothwen-
dig eigenthümlichen Gestalt, und noch durch kein bestimmtes
Verhältniss auf diese oder jene Weise gebildet, gedacht. Nir-
gends aber existirt der Mensch so, überall haben ihm schon die
Umstände, in welchen er lebt, eine positive, nur mehr oder
minder abweichende Form gegeben. Wo also ein Staat die
Gränzen seiner Wirksamkeit, nach den Grundsätzen einer
richtigen Theorie, auszudehnen oder einzuschränken bemüht
ist, da muss er auf diese Form eine vorzügliche Rücksicht neh-
men. Das Missverhältniss zwischen der Theorie und der Wirk-

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[181/0217] Gang der menschlichen Entwicklung stört, durch das, was noch von dem vorhergehenden in der Wirklichkeit, oder in den Köpfen der Menschen übrig ist, modificirt, verändert, entstellt. Ist aber dies Hinderniss aus dem Wege geräumt, kann der nun beschlossene Zustand der Dinge, des vorhergehenden und der, durch denselben bewirkten Lage der Gegenwart ungeachtet, seine volle Wirkung äussern; so darf auch nichts mehr der Ausführung der Reform im Wege stehen. Die allgemeinsten Grundsätze der Theorie aller Reformen dürften daher vielleicht folgende sein: 1. Man trage Grundsätze der reinen Theorie allemal alsdann, aber nie eher in die Wirklichkeit über, als bis diese in ihrem ganzen Umfange dieselben nicht mehr hin- dert, diejenigen Folgen zu äussern, welche sie, ohne alle fremde Beimischung, immer hervorbringen würden. 2. Um den Uebergang von dem gegenwärtigen Zustande zum neu beschlossenen zu bewirken, lasse man, soviel möglich, jede Reform von den Ideen und den Köpfen der Menschen ausgehen. Bei den, im Vorigen aufgestellten, blos theoretischen Grund- sätzen war ich zwar überall von der Natur des Menschen aus- gegangen, auch hatte ich in demselben kein ausserordentliches, sondern nur das gewöhnliche Maas der Kräfte vorausgesetzt; allein immer hatte ich ihn mir doch bloss in der ihm nothwen- dig eigenthümlichen Gestalt, und noch durch kein bestimmtes Verhältniss auf diese oder jene Weise gebildet, gedacht. Nir- gends aber existirt der Mensch so, überall haben ihm schon die Umstände, in welchen er lebt, eine positive, nur mehr oder minder abweichende Form gegeben. Wo also ein Staat die Gränzen seiner Wirksamkeit, nach den Grundsätzen einer richtigen Theorie, auszudehnen oder einzuschränken bemüht ist, da muss er auf diese Form eine vorzügliche Rücksicht neh- men. Das Missverhältniss zwischen der Theorie und der Wirk-

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/217>, abgerufen am 27.04.2024.