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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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leiten lassen, deren Uebersehung nur einen grösseren Nachtheil
zur Folge haben würde. Die Nation kann also mit Recht die
Befolgung jener Theorie immer so weit, aber nie weiter erfor-
dern, als diese Hindernisse dieselbe nicht unmöglich machen.
Diese Hindernisse nun habe ich im Vorigen nicht erwähnt; ich
habe mich bis hieher begnügt, die reine Theorie zu entwickeln.
Ueberhaupt habe ich versucht, die vortheilhafteste Lage für
den Menschen im Staat aufzusuchen. Diese schien mir nun
darin zu bestehen, dass die mannigfaltigste Individualität, die
originellste Selbstständigkeit mit der gleichfalls mannigfaltig-
sten und innigsten Vereinigung mehrerer Menschen neben ein-
ander aufgestellt würde -- ein Problem, welches nur die höchste
Freiheit zu lösen vermag. Die Möglichkeit einer Staatsein-
richtung, welche diesem Endzweck so wenig, als möglich,
Schranken setzte, darzuthun, war eigentlich die Absicht dieser
Bogen, und ist schon seit längerer Zeit der Gegenstand alles
meines Nachdenkens gewesen. Ich bin zufrieden, wenn ich
bewiesen habe, dass dieser Grundsatz wenigstens bei allen
Staatseinrichtungen dem Gesetzgeber, als Ideal, vorschreiben
sollte.

Eine grosse Erläuterung könnten diese Ideen durch die Ge-
schichte und Statistik -- beide auf diesen Endzweck gerichtet
-- erhalten. Ueberhaupt hat mir oft die Statistik einer Reform
zu bedürfen geschienen. Statt blosse Data der Grösse, der
Zahl der Einwohner, des Reichthums, der Industrie eines
Staats, aus welchen sein eigentlicher Zustand nie ganz und mit
Sicherheit zu beurtheilen ist, an die Hand zu geben; sollte sie,
von der natürlichen Beschaffenheit des Landes und seiner Be-
wohner ausgehend, das Maas und die Art ihrer thätigen, leiden-
den, und geniessenden Kräfte, und nun schrittweise die Modi-
fikationen zu schildern suchen, welche diese Kräfte theils durch
die Verbindung der Nation unter sich, theils durch die Ein-
richtung des Staats erhalten. Denn die Staatsverfassung und

leiten lassen, deren Uebersehung nur einen grösseren Nachtheil
zur Folge haben würde. Die Nation kann also mit Recht die
Befolgung jener Theorie immer so weit, aber nie weiter erfor-
dern, als diese Hindernisse dieselbe nicht unmöglich machen.
Diese Hindernisse nun habe ich im Vorigen nicht erwähnt; ich
habe mich bis hieher begnügt, die reine Theorie zu entwickeln.
Ueberhaupt habe ich versucht, die vortheilhafteste Lage für
den Menschen im Staat aufzusuchen. Diese schien mir nun
darin zu bestehen, dass die mannigfaltigste Individualität, die
originellste Selbstständigkeit mit der gleichfalls mannigfaltig-
sten und innigsten Vereinigung mehrerer Menschen neben ein-
ander aufgestellt würde — ein Problem, welches nur die höchste
Freiheit zu lösen vermag. Die Möglichkeit einer Staatsein-
richtung, welche diesem Endzweck so wenig, als möglich,
Schranken setzte, darzuthun, war eigentlich die Absicht dieser
Bogen, und ist schon seit längerer Zeit der Gegenstand alles
meines Nachdenkens gewesen. Ich bin zufrieden, wenn ich
bewiesen habe, dass dieser Grundsatz wenigstens bei allen
Staatseinrichtungen dem Gesetzgeber, als Ideal, vorschreiben
sollte.

Eine grosse Erläuterung könnten diese Ideen durch die Ge-
schichte und Statistik — beide auf diesen Endzweck gerichtet
— erhalten. Ueberhaupt hat mir oft die Statistik einer Reform
zu bedürfen geschienen. Statt blosse Data der Grösse, der
Zahl der Einwohner, des Reichthums, der Industrie eines
Staats, aus welchen sein eigentlicher Zustand nie ganz und mit
Sicherheit zu beurtheilen ist, an die Hand zu geben; sollte sie,
von der natürlichen Beschaffenheit des Landes und seiner Be-
wohner ausgehend, das Maas und die Art ihrer thätigen, leiden-
den, und geniessenden Kräfte, und nun schrittweise die Modi-
fikationen zu schildern suchen, welche diese Kräfte theils durch
die Verbindung der Nation unter sich, theils durch die Ein-
richtung des Staats erhalten. Denn die Staatsverfassung und

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[175/0211] leiten lassen, deren Uebersehung nur einen grösseren Nachtheil zur Folge haben würde. Die Nation kann also mit Recht die Befolgung jener Theorie immer so weit, aber nie weiter erfor- dern, als diese Hindernisse dieselbe nicht unmöglich machen. Diese Hindernisse nun habe ich im Vorigen nicht erwähnt; ich habe mich bis hieher begnügt, die reine Theorie zu entwickeln. Ueberhaupt habe ich versucht, die vortheilhafteste Lage für den Menschen im Staat aufzusuchen. Diese schien mir nun darin zu bestehen, dass die mannigfaltigste Individualität, die originellste Selbstständigkeit mit der gleichfalls mannigfaltig- sten und innigsten Vereinigung mehrerer Menschen neben ein- ander aufgestellt würde — ein Problem, welches nur die höchste Freiheit zu lösen vermag. Die Möglichkeit einer Staatsein- richtung, welche diesem Endzweck so wenig, als möglich, Schranken setzte, darzuthun, war eigentlich die Absicht dieser Bogen, und ist schon seit längerer Zeit der Gegenstand alles meines Nachdenkens gewesen. Ich bin zufrieden, wenn ich bewiesen habe, dass dieser Grundsatz wenigstens bei allen Staatseinrichtungen dem Gesetzgeber, als Ideal, vorschreiben sollte. Eine grosse Erläuterung könnten diese Ideen durch die Ge- schichte und Statistik — beide auf diesen Endzweck gerichtet — erhalten. Ueberhaupt hat mir oft die Statistik einer Reform zu bedürfen geschienen. Statt blosse Data der Grösse, der Zahl der Einwohner, des Reichthums, der Industrie eines Staats, aus welchen sein eigentlicher Zustand nie ganz und mit Sicherheit zu beurtheilen ist, an die Hand zu geben; sollte sie, von der natürlichen Beschaffenheit des Landes und seiner Be- wohner ausgehend, das Maas und die Art ihrer thätigen, leiden- den, und geniessenden Kräfte, und nun schrittweise die Modi- fikationen zu schildern suchen, welche diese Kräfte theils durch die Verbindung der Nation unter sich, theils durch die Ein- richtung des Staats erhalten. Denn die Staatsverfassung und

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/211>, abgerufen am 28.04.2024.