Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

dann setzt es nicht blos ein Bekümmern des Staats um die
Privathandlungen einzelner Individuen, sondern auch eine Macht
voraus, darauf zu wirken, welche durch die Personen noch be-
denklicher wird, denen dieselbe anvertraut werden muss. Es
muss nämlich alsdann entweder eigen dazu bestellten Leuten,
oder den schon vorhandenen Dienern des Staats eine Aufsicht
über das Betragen, und die daraus entspringende Lage entweder
aller Bürger, oder der ihnen untergebenen, übertragen werden.
Dadurch aber wird eine neue und drückendere Herrschaft ein-
geführt, als beinah irgend eine andere sein könnte; indiskreter
Neugier, einseitiger Intoleranz, selbst der Heuchelei und Ver-
stellung Raum gegeben. Man beschuldige mich hier nicht,
nur Missbräuche geschildert zu haben. Die Missbräuche sind
hier mit der Sache unzertrennlich verbunden; und ich wage es
zu behaupten, dass selbst, wenn die Gesetze die besten und
menschenfreundlichsten wären, wenn sie den Aufsehern blos
Erkundigungen auf gesetzmässigen Wegen, und den Gebrauch
von allem Zwang entfernter Rathschläge und Ermahnungen
erlaubten, und diesen Gesetzen die strengste Folge geleistet
würde, dennoch eine solche Einrichtung unnütz und schädlich
zugleich wäre. Jeder Bürger muss ungestört handlen können,
wie er will, solange er nicht das Gesetz überschreitet; jeder
muss die Befugniss haben, gegen jeden andern, und selbst gegen
alle Wahrscheinlichkeit, wie ein Dritter dieselbe beurtheilen
kann, zu behaupten: wie sehr ich mich der Gefahr, die Gesetze
zu übertreten, auch nähere, so werde ich dennoch nicht unter-
liegen. Wird er in dieser Freiheit gekränkt, so verletzt man
sein Recht, und schadet der Ausbildung seiner Fähigkeiten,
der Entwickelung seiner Individualität. Denn die Gestalten,
deren die Moralität und die Gesetzmässigkeit fähig ist, sind un-
endlich verschieden und mannigfaltig; und wenn ein Dritter
entscheidet, dieses oder jenes Betragen muss auf gesetzwidrige
Handlungen führen, so folgt er seiner Ansicht, welche, wie rich-

dann setzt es nicht blos ein Bekümmern des Staats um die
Privathandlungen einzelner Individuen, sondern auch eine Macht
voraus, darauf zu wirken, welche durch die Personen noch be-
denklicher wird, denen dieselbe anvertraut werden muss. Es
muss nämlich alsdann entweder eigen dazu bestellten Leuten,
oder den schon vorhandenen Dienern des Staats eine Aufsicht
über das Betragen, und die daraus entspringende Lage entweder
aller Bürger, oder der ihnen untergebenen, übertragen werden.
Dadurch aber wird eine neue und drückendere Herrschaft ein-
geführt, als beinah irgend eine andere sein könnte; indiskreter
Neugier, einseitiger Intoleranz, selbst der Heuchelei und Ver-
stellung Raum gegeben. Man beschuldige mich hier nicht,
nur Missbräuche geschildert zu haben. Die Missbräuche sind
hier mit der Sache unzertrennlich verbunden; und ich wage es
zu behaupten, dass selbst, wenn die Gesetze die besten und
menschenfreundlichsten wären, wenn sie den Aufsehern blos
Erkundigungen auf gesetzmässigen Wegen, und den Gebrauch
von allem Zwang entfernter Rathschläge und Ermahnungen
erlaubten, und diesen Gesetzen die strengste Folge geleistet
würde, dennoch eine solche Einrichtung unnütz und schädlich
zugleich wäre. Jeder Bürger muss ungestört handlen können,
wie er will, solange er nicht das Gesetz überschreitet; jeder
muss die Befugniss haben, gegen jeden andern, und selbst gegen
alle Wahrscheinlichkeit, wie ein Dritter dieselbe beurtheilen
kann, zu behaupten: wie sehr ich mich der Gefahr, die Gesetze
zu übertreten, auch nähere, so werde ich dennoch nicht unter-
liegen. Wird er in dieser Freiheit gekränkt, so verletzt man
sein Recht, und schadet der Ausbildung seiner Fähigkeiten,
der Entwickelung seiner Individualität. Denn die Gestalten,
deren die Moralität und die Gesetzmässigkeit fähig ist, sind un-
endlich verschieden und mannigfaltig; und wenn ein Dritter
entscheidet, dieses oder jenes Betragen muss auf gesetzwidrige
Handlungen führen, so folgt er seiner Ansicht, welche, wie rich-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0189" n="153"/>
dann setzt es nicht blos ein Bekümmern des Staats um die<lb/>
Privathandlungen einzelner Individuen, sondern auch eine Macht<lb/>
voraus, darauf zu wirken, welche durch die Personen noch be-<lb/>
denklicher wird, denen dieselbe anvertraut werden muss. Es<lb/>
muss nämlich alsdann entweder eigen dazu bestellten Leuten,<lb/>
oder den schon vorhandenen Dienern des Staats eine Aufsicht<lb/>
über das Betragen, und die daraus entspringende Lage entweder<lb/>
aller Bürger, oder der ihnen untergebenen, übertragen werden.<lb/>
Dadurch aber wird eine neue und drückendere Herrschaft ein-<lb/>
geführt, als beinah irgend eine andere sein könnte; indiskreter<lb/>
Neugier, einseitiger Intoleranz, selbst der Heuchelei und Ver-<lb/>
stellung Raum gegeben. Man beschuldige mich hier nicht,<lb/>
nur Missbräuche geschildert zu haben. Die Missbräuche sind<lb/>
hier mit der Sache unzertrennlich verbunden; und ich wage es<lb/>
zu behaupten, dass selbst, wenn die Gesetze die besten und<lb/>
menschenfreundlichsten wären, wenn sie den Aufsehern blos<lb/>
Erkundigungen auf gesetzmässigen Wegen, und den Gebrauch<lb/>
von allem Zwang entfernter Rathschläge und Ermahnungen<lb/>
erlaubten, und diesen Gesetzen die strengste Folge geleistet<lb/>
würde, dennoch eine solche Einrichtung unnütz und schädlich<lb/>
zugleich wäre. Jeder Bürger muss ungestört handlen können,<lb/>
wie er will, solange er nicht das Gesetz überschreitet; jeder<lb/>
muss die Befugniss haben, gegen jeden andern, und selbst gegen<lb/>
alle Wahrscheinlichkeit, wie ein Dritter dieselbe beurtheilen<lb/>
kann, zu behaupten: wie sehr ich mich der Gefahr, die Gesetze<lb/>
zu übertreten, auch nähere, so werde ich dennoch nicht unter-<lb/>
liegen. Wird er in dieser Freiheit gekränkt, so verletzt man<lb/>
sein Recht, und schadet der Ausbildung seiner Fähigkeiten,<lb/>
der Entwickelung seiner Individualität. Denn die Gestalten,<lb/>
deren die Moralität und die Gesetzmässigkeit fähig ist, sind un-<lb/>
endlich verschieden und mannigfaltig; und wenn ein Dritter<lb/>
entscheidet, dieses oder jenes Betragen muss auf gesetzwidrige<lb/>
Handlungen führen, so folgt er seiner Ansicht, welche, wie rich-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0189] dann setzt es nicht blos ein Bekümmern des Staats um die Privathandlungen einzelner Individuen, sondern auch eine Macht voraus, darauf zu wirken, welche durch die Personen noch be- denklicher wird, denen dieselbe anvertraut werden muss. Es muss nämlich alsdann entweder eigen dazu bestellten Leuten, oder den schon vorhandenen Dienern des Staats eine Aufsicht über das Betragen, und die daraus entspringende Lage entweder aller Bürger, oder der ihnen untergebenen, übertragen werden. Dadurch aber wird eine neue und drückendere Herrschaft ein- geführt, als beinah irgend eine andere sein könnte; indiskreter Neugier, einseitiger Intoleranz, selbst der Heuchelei und Ver- stellung Raum gegeben. Man beschuldige mich hier nicht, nur Missbräuche geschildert zu haben. Die Missbräuche sind hier mit der Sache unzertrennlich verbunden; und ich wage es zu behaupten, dass selbst, wenn die Gesetze die besten und menschenfreundlichsten wären, wenn sie den Aufsehern blos Erkundigungen auf gesetzmässigen Wegen, und den Gebrauch von allem Zwang entfernter Rathschläge und Ermahnungen erlaubten, und diesen Gesetzen die strengste Folge geleistet würde, dennoch eine solche Einrichtung unnütz und schädlich zugleich wäre. Jeder Bürger muss ungestört handlen können, wie er will, solange er nicht das Gesetz überschreitet; jeder muss die Befugniss haben, gegen jeden andern, und selbst gegen alle Wahrscheinlichkeit, wie ein Dritter dieselbe beurtheilen kann, zu behaupten: wie sehr ich mich der Gefahr, die Gesetze zu übertreten, auch nähere, so werde ich dennoch nicht unter- liegen. Wird er in dieser Freiheit gekränkt, so verletzt man sein Recht, und schadet der Ausbildung seiner Fähigkeiten, der Entwickelung seiner Individualität. Denn die Gestalten, deren die Moralität und die Gesetzmässigkeit fähig ist, sind un- endlich verschieden und mannigfaltig; und wenn ein Dritter entscheidet, dieses oder jenes Betragen muss auf gesetzwidrige Handlungen führen, so folgt er seiner Ansicht, welche, wie rich-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/189
Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/189>, abgerufen am 28.11.2024.