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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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zu gehen wagen, als ihn der Wille der Partheien führt. Der
erste Grundsatz jeder Prozessordnung müsste daher nothwen-
dig der sein, niemals die Wahrheit an sich und schlechterdings,
sondern nur immer insofern aufzusuchen, als diejenige Parthei
es fordert, welche deren Aufsuchung überhaupt zu verlangen
berechtigt ist. Allein auch hier treten noch neue Schranken
ein. Der Staat darf nämlich nicht jedem Verlangen der Par-
theien willfahren, sondern nur demjenigen, welches zur Aufklä-
rung des streitigen Rechtes dienen kann, und auf die Anwen-
dung solcher Mittel gerichtet ist, welche, auch ausser der
Staatsverbindung, der Mensch gegen den Menschen, und zwar
in dem Falle gebrauchen kann, in welchem blos ein Recht zwi-
schen ihnen streitig ist, in welchem aber der andre ihm entweder
überhaupt nicht, oder wenigstens nicht erwiesenermaassen
etwas entzogen hat. Die hinzukommende Gewalt des Staats
darf nicht mehr thun, als nur die Anwendung dieser Mittel
sichern, und ihre Wirksamkeit unterstützen. Hieraus entsteht
der Unterschied zwischen dem Civil- und Kriminalverfahren,
dass in jenem das äusserste Mittel zur Erforschung der Wahr-
heit der Eid ist, in diesem aber der Staat einer grösseren Frei-
heit geniesst. Da der Richter bei der Ausmittelung des strei-
tigen Rechts gleichsam zwischen beiden Theilen steht, so ist
es seine Pflicht zu verhindern, dass keiner derselben durch die
Schuld des andern in der Erreichung seiner Absicht entweder
ganz gestört, oder doch hingehalten werde; und so entsteht
der zweite gleich nothwendige Grundsatz, das Verfahren der
Partheien, während des Prozesses, unter specieller Aufsicht zu
haben, und zu verhindern, dass es, statt sich dem gemeinschaft-
lichen Endzweck zu nähern, sich vielmehr davon entferne. Die
höchste und genaueste Befolgung jedes dieser beiden Grund-
sätze würde, dünkt mich, die beste Prozessordnung hervorbrin-
gen. Denn übersieht man den letzteren, so ist der Chikane der
Partheien, und der Nachlässigkeit und den eigensüchtigen Ab-

zu gehen wagen, als ihn der Wille der Partheien führt. Der
erste Grundsatz jeder Prozessordnung müsste daher nothwen-
dig der sein, niemals die Wahrheit an sich und schlechterdings,
sondern nur immer insofern aufzusuchen, als diejenige Parthei
es fordert, welche deren Aufsuchung überhaupt zu verlangen
berechtigt ist. Allein auch hier treten noch neue Schranken
ein. Der Staat darf nämlich nicht jedem Verlangen der Par-
theien willfahren, sondern nur demjenigen, welches zur Aufklä-
rung des streitigen Rechtes dienen kann, und auf die Anwen-
dung solcher Mittel gerichtet ist, welche, auch ausser der
Staatsverbindung, der Mensch gegen den Menschen, und zwar
in dem Falle gebrauchen kann, in welchem blos ein Recht zwi-
schen ihnen streitig ist, in welchem aber der andre ihm entweder
überhaupt nicht, oder wenigstens nicht erwiesenermaassen
etwas entzogen hat. Die hinzukommende Gewalt des Staats
darf nicht mehr thun, als nur die Anwendung dieser Mittel
sichern, und ihre Wirksamkeit unterstützen. Hieraus entsteht
der Unterschied zwischen dem Civil- und Kriminalverfahren,
dass in jenem das äusserste Mittel zur Erforschung der Wahr-
heit der Eid ist, in diesem aber der Staat einer grösseren Frei-
heit geniesst. Da der Richter bei der Ausmittelung des strei-
tigen Rechts gleichsam zwischen beiden Theilen steht, so ist
es seine Pflicht zu verhindern, dass keiner derselben durch die
Schuld des andern in der Erreichung seiner Absicht entweder
ganz gestört, oder doch hingehalten werde; und so entsteht
der zweite gleich nothwendige Grundsatz, das Verfahren der
Partheien, während des Prozesses, unter specieller Aufsicht zu
haben, und zu verhindern, dass es, statt sich dem gemeinschaft-
lichen Endzweck zu nähern, sich vielmehr davon entferne. Die
höchste und genaueste Befolgung jedes dieser beiden Grund-
sätze würde, dünkt mich, die beste Prozessordnung hervorbrin-
gen. Denn übersieht man den letzteren, so ist der Chikane der
Partheien, und der Nachlässigkeit und den eigensüchtigen Ab-

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[134/0170] zu gehen wagen, als ihn der Wille der Partheien führt. Der erste Grundsatz jeder Prozessordnung müsste daher nothwen- dig der sein, niemals die Wahrheit an sich und schlechterdings, sondern nur immer insofern aufzusuchen, als diejenige Parthei es fordert, welche deren Aufsuchung überhaupt zu verlangen berechtigt ist. Allein auch hier treten noch neue Schranken ein. Der Staat darf nämlich nicht jedem Verlangen der Par- theien willfahren, sondern nur demjenigen, welches zur Aufklä- rung des streitigen Rechtes dienen kann, und auf die Anwen- dung solcher Mittel gerichtet ist, welche, auch ausser der Staatsverbindung, der Mensch gegen den Menschen, und zwar in dem Falle gebrauchen kann, in welchem blos ein Recht zwi- schen ihnen streitig ist, in welchem aber der andre ihm entweder überhaupt nicht, oder wenigstens nicht erwiesenermaassen etwas entzogen hat. Die hinzukommende Gewalt des Staats darf nicht mehr thun, als nur die Anwendung dieser Mittel sichern, und ihre Wirksamkeit unterstützen. Hieraus entsteht der Unterschied zwischen dem Civil- und Kriminalverfahren, dass in jenem das äusserste Mittel zur Erforschung der Wahr- heit der Eid ist, in diesem aber der Staat einer grösseren Frei- heit geniesst. Da der Richter bei der Ausmittelung des strei- tigen Rechts gleichsam zwischen beiden Theilen steht, so ist es seine Pflicht zu verhindern, dass keiner derselben durch die Schuld des andern in der Erreichung seiner Absicht entweder ganz gestört, oder doch hingehalten werde; und so entsteht der zweite gleich nothwendige Grundsatz, das Verfahren der Partheien, während des Prozesses, unter specieller Aufsicht zu haben, und zu verhindern, dass es, statt sich dem gemeinschaft- lichen Endzweck zu nähern, sich vielmehr davon entferne. Die höchste und genaueste Befolgung jedes dieser beiden Grund- sätze würde, dünkt mich, die beste Prozessordnung hervorbrin- gen. Denn übersieht man den letzteren, so ist der Chikane der Partheien, und der Nachlässigkeit und den eigensüchtigen Ab-

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/170>, abgerufen am 26.11.2024.