Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

welche dem kalten und darum hier allemal unfeinen Verstande
entgehen würden, und soll das Recht geniessen, dem Menschen
-- dem es nicht verwehrt ist, die mit der Tugend so eng ver-
schwisterte Glückseligkeit zu empfangen, sondern nur mit der
Tugend gleichsam um diese Glückseligkeit zu handlen -- die
süssesten Gefühle zu gewähren. Je mehr ich überhaupt über
diesen Gegenstand nachdenken mag, desto weniger scheint mir
der Unterschied, den ich eben bemerkte, blos subtil, und viel-
leicht schwärmerisch zu sein. Wie strebend der Mensch nach
Genuss ist, wie sehr er sich Tugend und Glückseligkeit ewig,
auch unter den ungünstigsten Umständen, vereint denken
möchte; so ist doch auch seine Seele für die Grösse des mora-
lischen Gesetzes empfänglich. Sie kann sich der Gewalt nicht
erwehren, mit welcher diese Grösse sie zu handeln nöthigt,
und, nur von diesem Gefühle durchdrungen, handelt sie schon
darum ohne Rücksicht auf Genuss, weil sie nie das volle Bewusst-
sein verliert, dass die Vorstellung jedes Unglücks ihr kein
andres Betragen abnöthigen würde.

Allein diese Stärke gewinnt die Seele freilich nur auf einem,
dem ähnlichen Wege, von welchem ich im Vorigen rede; nur
durch mächtigen inneren Drang und mannigfaltigen äussern
Streit. Alle Stärke -- gleichsam die Materie -- stammt aus
der Sinnlichkeit, und, wie weit entfernt von dem Stamme, ist
sie doch noch immer, wenn ich so sagen darf, auf ihm ruhend.
Wer nun seine Kräfte unaufhörlich zu erhöhen, und durch
häufigen Genuss zu verjüngen sucht, wer die Stärke seines
Charakters oft braucht, seine Unabhängigkeit vor der Sinn-
lichkeit zu behaupten, wer so diese Unabhängigkeit mit der
höchsten Reizbarkeit zu vereinen bemüht ist, wessen gerader
und tiefer Sinn der Wahrheit unermüdet nachforscht, wessen
richtiges und feines Schönheitsgefühl keine reizende Gestalt
unbemerkt lässt, wessen Drang, das ausser sich Empfundene
in sich aufzunehmen und das in sich Aufgenommene zu neuen

welche dem kalten und darum hier allemal unfeinen Verstande
entgehen würden, und soll das Recht geniessen, dem Menschen
— dem es nicht verwehrt ist, die mit der Tugend so eng ver-
schwisterte Glückseligkeit zu empfangen, sondern nur mit der
Tugend gleichsam um diese Glückseligkeit zu handlen — die
süssesten Gefühle zu gewähren. Je mehr ich überhaupt über
diesen Gegenstand nachdenken mag, desto weniger scheint mir
der Unterschied, den ich eben bemerkte, blos subtil, und viel-
leicht schwärmerisch zu sein. Wie strebend der Mensch nach
Genuss ist, wie sehr er sich Tugend und Glückseligkeit ewig,
auch unter den ungünstigsten Umständen, vereint denken
möchte; so ist doch auch seine Seele für die Grösse des mora-
lischen Gesetzes empfänglich. Sie kann sich der Gewalt nicht
erwehren, mit welcher diese Grösse sie zu handeln nöthigt,
und, nur von diesem Gefühle durchdrungen, handelt sie schon
darum ohne Rücksicht auf Genuss, weil sie nie das volle Bewusst-
sein verliert, dass die Vorstellung jedes Unglücks ihr kein
andres Betragen abnöthigen würde.

Allein diese Stärke gewinnt die Seele freilich nur auf einem,
dem ähnlichen Wege, von welchem ich im Vorigen rede; nur
durch mächtigen inneren Drang und mannigfaltigen äussern
Streit. Alle Stärke — gleichsam die Materie — stammt aus
der Sinnlichkeit, und, wie weit entfernt von dem Stamme, ist
sie doch noch immer, wenn ich so sagen darf, auf ihm ruhend.
Wer nun seine Kräfte unaufhörlich zu erhöhen, und durch
häufigen Genuss zu verjüngen sucht, wer die Stärke seines
Charakters oft braucht, seine Unabhängigkeit vor der Sinn-
lichkeit zu behaupten, wer so diese Unabhängigkeit mit der
höchsten Reizbarkeit zu vereinen bemüht ist, wessen gerader
und tiefer Sinn der Wahrheit unermüdet nachforscht, wessen
richtiges und feines Schönheitsgefühl keine reizende Gestalt
unbemerkt lässt, wessen Drang, das ausser sich Empfundene
in sich aufzunehmen und das in sich Aufgenommene zu neuen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0131" n="95"/>
welche dem kalten und darum hier allemal unfeinen Verstande<lb/>
entgehen würden, und soll das Recht geniessen, dem Menschen<lb/>
&#x2014; dem es nicht verwehrt ist, die mit der Tugend so eng ver-<lb/>
schwisterte Glückseligkeit zu empfangen, sondern nur mit der<lb/>
Tugend gleichsam um diese Glückseligkeit zu handlen &#x2014; die<lb/>
süssesten Gefühle zu gewähren. Je mehr ich überhaupt über<lb/>
diesen Gegenstand nachdenken mag, desto weniger scheint mir<lb/>
der Unterschied, den ich eben bemerkte, blos subtil, und viel-<lb/>
leicht schwärmerisch zu sein. Wie strebend der Mensch nach<lb/>
Genuss ist, wie sehr er sich Tugend und Glückseligkeit ewig,<lb/>
auch unter den ungünstigsten Umständen, vereint denken<lb/>
möchte; so ist doch auch seine Seele für die Grösse des mora-<lb/>
lischen Gesetzes empfänglich. Sie kann sich der Gewalt nicht<lb/>
erwehren, mit welcher diese Grösse sie zu handeln nöthigt,<lb/>
und, <hi rendition="#g">nur</hi> von diesem Gefühle durchdrungen, handelt sie schon<lb/>
darum ohne Rücksicht auf Genuss, weil sie nie das volle Bewusst-<lb/>
sein verliert, dass die Vorstellung jedes Unglücks ihr kein<lb/>
andres Betragen abnöthigen würde.</p><lb/>
        <p>Allein diese Stärke gewinnt die Seele freilich nur auf einem,<lb/>
dem ähnlichen Wege, von welchem ich im Vorigen rede; nur<lb/>
durch mächtigen inneren Drang und mannigfaltigen äussern<lb/>
Streit. Alle Stärke &#x2014; gleichsam die Materie &#x2014; stammt aus<lb/>
der Sinnlichkeit, und, wie weit entfernt von dem Stamme, ist<lb/>
sie doch noch immer, wenn ich so sagen darf, auf ihm ruhend.<lb/>
Wer nun seine Kräfte unaufhörlich zu erhöhen, und durch<lb/>
häufigen Genuss zu verjüngen sucht, wer die Stärke seines<lb/>
Charakters oft braucht, seine Unabhängigkeit vor der Sinn-<lb/>
lichkeit zu behaupten, wer so diese Unabhängigkeit mit der<lb/>
höchsten Reizbarkeit zu vereinen bemüht ist, wessen gerader<lb/>
und tiefer Sinn der Wahrheit unermüdet nachforscht, wessen<lb/>
richtiges und feines Schönheitsgefühl keine reizende Gestalt<lb/>
unbemerkt lässt, wessen Drang, das ausser sich Empfundene<lb/>
in sich aufzunehmen und das in sich Aufgenommene zu neuen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0131] welche dem kalten und darum hier allemal unfeinen Verstande entgehen würden, und soll das Recht geniessen, dem Menschen — dem es nicht verwehrt ist, die mit der Tugend so eng ver- schwisterte Glückseligkeit zu empfangen, sondern nur mit der Tugend gleichsam um diese Glückseligkeit zu handlen — die süssesten Gefühle zu gewähren. Je mehr ich überhaupt über diesen Gegenstand nachdenken mag, desto weniger scheint mir der Unterschied, den ich eben bemerkte, blos subtil, und viel- leicht schwärmerisch zu sein. Wie strebend der Mensch nach Genuss ist, wie sehr er sich Tugend und Glückseligkeit ewig, auch unter den ungünstigsten Umständen, vereint denken möchte; so ist doch auch seine Seele für die Grösse des mora- lischen Gesetzes empfänglich. Sie kann sich der Gewalt nicht erwehren, mit welcher diese Grösse sie zu handeln nöthigt, und, nur von diesem Gefühle durchdrungen, handelt sie schon darum ohne Rücksicht auf Genuss, weil sie nie das volle Bewusst- sein verliert, dass die Vorstellung jedes Unglücks ihr kein andres Betragen abnöthigen würde. Allein diese Stärke gewinnt die Seele freilich nur auf einem, dem ähnlichen Wege, von welchem ich im Vorigen rede; nur durch mächtigen inneren Drang und mannigfaltigen äussern Streit. Alle Stärke — gleichsam die Materie — stammt aus der Sinnlichkeit, und, wie weit entfernt von dem Stamme, ist sie doch noch immer, wenn ich so sagen darf, auf ihm ruhend. Wer nun seine Kräfte unaufhörlich zu erhöhen, und durch häufigen Genuss zu verjüngen sucht, wer die Stärke seines Charakters oft braucht, seine Unabhängigkeit vor der Sinn- lichkeit zu behaupten, wer so diese Unabhängigkeit mit der höchsten Reizbarkeit zu vereinen bemüht ist, wessen gerader und tiefer Sinn der Wahrheit unermüdet nachforscht, wessen richtiges und feines Schönheitsgefühl keine reizende Gestalt unbemerkt lässt, wessen Drang, das ausser sich Empfundene in sich aufzunehmen und das in sich Aufgenommene zu neuen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/131
Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/131>, abgerufen am 05.05.2024.