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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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In Europa wird die Untersuchung der Eigenschaften der
Gifte der Neuen Welt eine schöne Aufgabe für Chemie und
Physiologie sein, wenn man sich einmal bei stärkerem Verkehr
aus den Ländern, wo sie bereitet werden, und so, daß sie
nicht zu verwechseln sind, all die Gifte verschaffen kann, das
Curare de bejuco, das Curare de raiz, und die verschie-
denen Sorten vom Amazonenstrom, vom Huallaga und aus
Brasilien. Da die Chemie die reine Blausäure und so viele
neue sehr giftige Stoffe entdeckt hat, wird man in Europa
hinsichtlich der Einführung dieser von wilden Völkern be-
reiteten Gifte nicht mehr so ängstlich sein; indessen kann man
doch allen, die in sehr volkreichen Städten (den Mittelpunkten
der Kultur, des Elendes und der Sittenverderbnis) so heftig
wirkende Stoffe in Händen haben, nicht genug Vorsicht em-
pfehlen. Was unsere botanische Kenntnis der Gewächse betrifft,
aus denen Gift bereitet wird, so werden sie sich nur äußerst
langsam berichtigen. Die meisten Indianer, die sich mit der
Verfertigung vergifteter Pfeile abgeben, sind mit dem Wesen
der giftigen Substanzen, die sie aus den Händen anderer
Völker erhalten, völlig unbekannt. Ueber der Geschichte der
Gifte und Gegengifte liegt überall der Schleier des Ge-
heimnisses. Ihre Bereitung ist bei den Wilden Monopol
der Piaches, die zugleich Priester, Gaukler und Aerzte sind,
und nur von den in die Missionen versetzten Eingeborenen
kann man über die rätselhaften Stoffe etwas Sicheres er-
fahren. Jahrhunderte vergingen, ehe Mutis' Beobachtungs-
geist die Europäer mit dem Bejuco del Guaco (Mikania
Guako)
bekannt machte, welches das kräftige Gegengift gegen
den Schlangenbiß ist und das wir zuerst botanisch beschreiben
konnten.

In den Missionen herrscht allgemein die Meinung, Ret-
tung sei unmöglich, wenn das Curare frisch und stark ein-
gedickt und so lange in der Wunde geblieben ist, daß viel
davon in den Blutlauf übergegangen. Unter allen Gegen-
mitteln, die man am Orinoko und (nach Leschenault) im In-
dischen Archipel braucht, ist das salzsaure Natron das ver-
breitetste. 1 Man reibt die Wunde mit dem Salz und nimmt

1 Schon Oviedo rühmt das Seewasser als Gegengift gegen
vegetabilische Gifte. In den Missionen verfehlt man nicht, den
europäischen Reisenden alles Ernstes zu versichern, mit Salz im
Munde habe man in Curare getauchte Pfeile so wenig zu fürchten,

In Europa wird die Unterſuchung der Eigenſchaften der
Gifte der Neuen Welt eine ſchöne Aufgabe für Chemie und
Phyſiologie ſein, wenn man ſich einmal bei ſtärkerem Verkehr
aus den Ländern, wo ſie bereitet werden, und ſo, daß ſie
nicht zu verwechſeln ſind, all die Gifte verſchaffen kann, das
Curare de bejuco, das Curare de raiz, und die verſchie-
denen Sorten vom Amazonenſtrom, vom Huallaga und aus
Braſilien. Da die Chemie die reine Blauſäure und ſo viele
neue ſehr giftige Stoffe entdeckt hat, wird man in Europa
hinſichtlich der Einführung dieſer von wilden Völkern be-
reiteten Gifte nicht mehr ſo ängſtlich ſein; indeſſen kann man
doch allen, die in ſehr volkreichen Städten (den Mittelpunkten
der Kultur, des Elendes und der Sittenverderbnis) ſo heftig
wirkende Stoffe in Händen haben, nicht genug Vorſicht em-
pfehlen. Was unſere botaniſche Kenntnis der Gewächſe betrifft,
aus denen Gift bereitet wird, ſo werden ſie ſich nur äußerſt
langſam berichtigen. Die meiſten Indianer, die ſich mit der
Verfertigung vergifteter Pfeile abgeben, ſind mit dem Weſen
der giftigen Subſtanzen, die ſie aus den Händen anderer
Völker erhalten, völlig unbekannt. Ueber der Geſchichte der
Gifte und Gegengifte liegt überall der Schleier des Ge-
heimniſſes. Ihre Bereitung iſt bei den Wilden Monopol
der Piaches, die zugleich Prieſter, Gaukler und Aerzte ſind,
und nur von den in die Miſſionen verſetzten Eingeborenen
kann man über die rätſelhaften Stoffe etwas Sicheres er-
fahren. Jahrhunderte vergingen, ehe Mutis’ Beobachtungs-
geiſt die Europäer mit dem Bejuco del Guaco (Mikania
Guako)
bekannt machte, welches das kräftige Gegengift gegen
den Schlangenbiß iſt und das wir zuerſt botaniſch beſchreiben
konnten.

In den Miſſionen herrſcht allgemein die Meinung, Ret-
tung ſei unmöglich, wenn das Curare friſch und ſtark ein-
gedickt und ſo lange in der Wunde geblieben iſt, daß viel
davon in den Blutlauf übergegangen. Unter allen Gegen-
mitteln, die man am Orinoko und (nach Leschenault) im In-
diſchen Archipel braucht, iſt das ſalzſaure Natron das ver-
breitetſte. 1 Man reibt die Wunde mit dem Salz und nimmt

1 Schon Oviedo rühmt das Seewaſſer als Gegengift gegen
vegetabiliſche Gifte. In den Miſſionen verfehlt man nicht, den
europäiſchen Reiſenden alles Ernſtes zu verſichern, mit Salz im
Munde habe man in Curare getauchte Pfeile ſo wenig zu fürchten,
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[68/0076] In Europa wird die Unterſuchung der Eigenſchaften der Gifte der Neuen Welt eine ſchöne Aufgabe für Chemie und Phyſiologie ſein, wenn man ſich einmal bei ſtärkerem Verkehr aus den Ländern, wo ſie bereitet werden, und ſo, daß ſie nicht zu verwechſeln ſind, all die Gifte verſchaffen kann, das Curare de bejuco, das Curare de raiz, und die verſchie- denen Sorten vom Amazonenſtrom, vom Huallaga und aus Braſilien. Da die Chemie die reine Blauſäure und ſo viele neue ſehr giftige Stoffe entdeckt hat, wird man in Europa hinſichtlich der Einführung dieſer von wilden Völkern be- reiteten Gifte nicht mehr ſo ängſtlich ſein; indeſſen kann man doch allen, die in ſehr volkreichen Städten (den Mittelpunkten der Kultur, des Elendes und der Sittenverderbnis) ſo heftig wirkende Stoffe in Händen haben, nicht genug Vorſicht em- pfehlen. Was unſere botaniſche Kenntnis der Gewächſe betrifft, aus denen Gift bereitet wird, ſo werden ſie ſich nur äußerſt langſam berichtigen. Die meiſten Indianer, die ſich mit der Verfertigung vergifteter Pfeile abgeben, ſind mit dem Weſen der giftigen Subſtanzen, die ſie aus den Händen anderer Völker erhalten, völlig unbekannt. Ueber der Geſchichte der Gifte und Gegengifte liegt überall der Schleier des Ge- heimniſſes. Ihre Bereitung iſt bei den Wilden Monopol der Piaches, die zugleich Prieſter, Gaukler und Aerzte ſind, und nur von den in die Miſſionen verſetzten Eingeborenen kann man über die rätſelhaften Stoffe etwas Sicheres er- fahren. Jahrhunderte vergingen, ehe Mutis’ Beobachtungs- geiſt die Europäer mit dem Bejuco del Guaco (Mikania Guako) bekannt machte, welches das kräftige Gegengift gegen den Schlangenbiß iſt und das wir zuerſt botaniſch beſchreiben konnten. In den Miſſionen herrſcht allgemein die Meinung, Ret- tung ſei unmöglich, wenn das Curare friſch und ſtark ein- gedickt und ſo lange in der Wunde geblieben iſt, daß viel davon in den Blutlauf übergegangen. Unter allen Gegen- mitteln, die man am Orinoko und (nach Leschenault) im In- diſchen Archipel braucht, iſt das ſalzſaure Natron das ver- breitetſte. 1 Man reibt die Wunde mit dem Salz und nimmt 1 Schon Oviedo rühmt das Seewaſſer als Gegengift gegen vegetabiliſche Gifte. In den Miſſionen verfehlt man nicht, den europäiſchen Reiſenden alles Ernſtes zu verſichern, mit Salz im Munde habe man in Curare getauchte Pfeile ſo wenig zu fürchten,

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/76>, abgerufen am 22.11.2024.