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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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So leicht die Indianer am Cassiquiare in ihre barbari-
schen Gewohnheiten zurückfallen, so zeigen sie doch in den
Missionen Verstand und einige Lust zur Arbeit, besonders
aber große Fertigkeit, sich spanisch auszudrücken. Da in den
Dörfern meist drei, vier Nationen beisammen leben, die ein-
ander nicht verstehen, so hat eine fremde Sprache, die zugleich
die Sprache der bürgerlichen Behörde, des Missionärs ist, den
Vorteil, daß sie als allgemeines Verkehrsmittel dient. Ich
sah einen Poignaveindianer sich spanisch mit einem Guahibo-
indianer unterhalten, und doch hatten beide erst seit drei Mo-
naten ihre Wälder verlassen. Alle Viertelstunden brachten sie
einen mühselig zusammengestoppelten Satz zu Tage, und dabei
war das Zeitwort, ohne Zweifel nach der Syntax ihrer eigenen
Sprachen, immer im Gerundium gesetzt. (Quando io mirando
Padre, Padre, me diciendo,
statt: als ich den Pater sah,
sagte er mir.) Ich habe oben erwähnt, wie verständig mir
die Idee der Jesuiten schien, eine der kultivierten amerikani-
schen Sprachen, etwa das Peruanische, die Lingua del Inca,
zur allgemeinen Sprache zu machen und die Indianer in einer
Mundart zu unterrichten, die wohl in den Wurzeln aber nicht

Menschenfleisch zu essen, war der Abscheu und das Entsetzen über so
gräßliche Gerichte so groß, daß von nichts als von diesen Greueln
gesprochen wurde; man gewöhnte sich aber in der Folge dergestalt
daran und man fand so großen Geschmack an der entsetzlichen
Speise, daß man reiche und ganz ehrbare Leute sie für gewöhnlich
genießen, zum Festessen machen, ja Vorräte davon anlegen sah.
Es kamen verschiedene Zubereitungsarten des Fleisches auf, und
da der Brauch einmal bestand, verbreitete er sich auch über die
Provinzen, so daß allerorten in Aegypten Fälle vorkamen. Und da
verwunderte man sich gar nicht mehr darüber; das Entsetzen, das
man zu Anfang darob empfunden, schwand ganz und gar, und man
sprach davon und hörte davon sprechen als von etwas ganz Gleich-
gültigem und Alltäglichem. Die Sucht, einander aufzuessen, griff
unter den Armen dergestalt um sich, daß die meisten auf diese
Weise umkamen. Die Elenden brauchten alle möglichen Listen, um
Menschen zu überfallen oder sie unter falschem Vorgeben zu sich
ins Haus zu locken. Von den Aerzten, die zu mir kamen, ver-
fielen drei diesem Lose, und ein Buchhändler, der Bücher an mich
verkaufte, ein alter, sehr fetter Mann, fiel in ihre Netze und kam
nur mit knapper Not davon. Alle Vorfälle, von denen wir als
Augenzeugen berichten, sind uns zufällig vor Augen gekommen,
denn meist gingen wir einem Anblicke aus dem Wege, der uns mit
solchem Entsetzen erfüllte."

So leicht die Indianer am Caſſiquiare in ihre barbari-
ſchen Gewohnheiten zurückfallen, ſo zeigen ſie doch in den
Miſſionen Verſtand und einige Luſt zur Arbeit, beſonders
aber große Fertigkeit, ſich ſpaniſch auszudrücken. Da in den
Dörfern meiſt drei, vier Nationen beiſammen leben, die ein-
ander nicht verſtehen, ſo hat eine fremde Sprache, die zugleich
die Sprache der bürgerlichen Behörde, des Miſſionärs iſt, den
Vorteil, daß ſie als allgemeines Verkehrsmittel dient. Ich
ſah einen Poignaveindianer ſich ſpaniſch mit einem Guahibo-
indianer unterhalten, und doch hatten beide erſt ſeit drei Mo-
naten ihre Wälder verlaſſen. Alle Viertelſtunden brachten ſie
einen mühſelig zuſammengeſtoppelten Satz zu Tage, und dabei
war das Zeitwort, ohne Zweifel nach der Syntax ihrer eigenen
Sprachen, immer im Gerundium geſetzt. (Quando io mirando
Padre, Padre, me diciendo,
ſtatt: als ich den Pater ſah,
ſagte er mir.) Ich habe oben erwähnt, wie verſtändig mir
die Idee der Jeſuiten ſchien, eine der kultivierten amerikani-
ſchen Sprachen, etwa das Peruaniſche, die Lingua del Inca,
zur allgemeinen Sprache zu machen und die Indianer in einer
Mundart zu unterrichten, die wohl in den Wurzeln aber nicht

Menſchenfleiſch zu eſſen, war der Abſcheu und das Entſetzen über ſo
gräßliche Gerichte ſo groß, daß von nichts als von dieſen Greueln
geſprochen wurde; man gewöhnte ſich aber in der Folge dergeſtalt
daran und man fand ſo großen Geſchmack an der entſetzlichen
Speiſe, daß man reiche und ganz ehrbare Leute ſie für gewöhnlich
genießen, zum Feſteſſen machen, ja Vorräte davon anlegen ſah.
Es kamen verſchiedene Zubereitungsarten des Fleiſches auf, und
da der Brauch einmal beſtand, verbreitete er ſich auch über die
Provinzen, ſo daß allerorten in Aegypten Fälle vorkamen. Und da
verwunderte man ſich gar nicht mehr darüber; das Entſetzen, das
man zu Anfang darob empfunden, ſchwand ganz und gar, und man
ſprach davon und hörte davon ſprechen als von etwas ganz Gleich-
gültigem und Alltäglichem. Die Sucht, einander aufzueſſen, griff
unter den Armen dergeſtalt um ſich, daß die meiſten auf dieſe
Weiſe umkamen. Die Elenden brauchten alle möglichen Liſten, um
Menſchen zu überfallen oder ſie unter falſchem Vorgeben zu ſich
ins Haus zu locken. Von den Aerzten, die zu mir kamen, ver-
fielen drei dieſem Loſe, und ein Buchhändler, der Bücher an mich
verkaufte, ein alter, ſehr fetter Mann, fiel in ihre Netze und kam
nur mit knapper Not davon. Alle Vorfälle, von denen wir als
Augenzeugen berichten, ſind uns zufällig vor Augen gekommen,
denn meiſt gingen wir einem Anblicke aus dem Wege, der uns mit
ſolchem Entſetzen erfüllte.“
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[19/0027] So leicht die Indianer am Caſſiquiare in ihre barbari- ſchen Gewohnheiten zurückfallen, ſo zeigen ſie doch in den Miſſionen Verſtand und einige Luſt zur Arbeit, beſonders aber große Fertigkeit, ſich ſpaniſch auszudrücken. Da in den Dörfern meiſt drei, vier Nationen beiſammen leben, die ein- ander nicht verſtehen, ſo hat eine fremde Sprache, die zugleich die Sprache der bürgerlichen Behörde, des Miſſionärs iſt, den Vorteil, daß ſie als allgemeines Verkehrsmittel dient. Ich ſah einen Poignaveindianer ſich ſpaniſch mit einem Guahibo- indianer unterhalten, und doch hatten beide erſt ſeit drei Mo- naten ihre Wälder verlaſſen. Alle Viertelſtunden brachten ſie einen mühſelig zuſammengeſtoppelten Satz zu Tage, und dabei war das Zeitwort, ohne Zweifel nach der Syntax ihrer eigenen Sprachen, immer im Gerundium geſetzt. (Quando io mirando Padre, Padre, me diciendo, ſtatt: als ich den Pater ſah, ſagte er mir.) Ich habe oben erwähnt, wie verſtändig mir die Idee der Jeſuiten ſchien, eine der kultivierten amerikani- ſchen Sprachen, etwa das Peruaniſche, die Lingua del Inca, zur allgemeinen Sprache zu machen und die Indianer in einer Mundart zu unterrichten, die wohl in den Wurzeln aber nicht 1 1 Menſchenfleiſch zu eſſen, war der Abſcheu und das Entſetzen über ſo gräßliche Gerichte ſo groß, daß von nichts als von dieſen Greueln geſprochen wurde; man gewöhnte ſich aber in der Folge dergeſtalt daran und man fand ſo großen Geſchmack an der entſetzlichen Speiſe, daß man reiche und ganz ehrbare Leute ſie für gewöhnlich genießen, zum Feſteſſen machen, ja Vorräte davon anlegen ſah. Es kamen verſchiedene Zubereitungsarten des Fleiſches auf, und da der Brauch einmal beſtand, verbreitete er ſich auch über die Provinzen, ſo daß allerorten in Aegypten Fälle vorkamen. Und da verwunderte man ſich gar nicht mehr darüber; das Entſetzen, das man zu Anfang darob empfunden, ſchwand ganz und gar, und man ſprach davon und hörte davon ſprechen als von etwas ganz Gleich- gültigem und Alltäglichem. Die Sucht, einander aufzueſſen, griff unter den Armen dergeſtalt um ſich, daß die meiſten auf dieſe Weiſe umkamen. Die Elenden brauchten alle möglichen Liſten, um Menſchen zu überfallen oder ſie unter falſchem Vorgeben zu ſich ins Haus zu locken. Von den Aerzten, die zu mir kamen, ver- fielen drei dieſem Loſe, und ein Buchhändler, der Bücher an mich verkaufte, ein alter, ſehr fetter Mann, fiel in ihre Netze und kam nur mit knapper Not davon. Alle Vorfälle, von denen wir als Augenzeugen berichten, ſind uns zufällig vor Augen gekommen, denn meiſt gingen wir einem Anblicke aus dem Wege, der uns mit ſolchem Entſetzen erfüllte.“

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/27>, abgerufen am 26.04.2024.