Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

Verdruß sahen wir hier, wie die karibischen Mütter schon die
kleinsten Kinder quälen, um ihnen nicht nur die Waden größer
zu machen, sondern am ganzen Bein vom Knöchel bis oben
am Schenkel das Fleisch stellenweise hervorzutreiben. Bänder
von Leder oder Baumwollenzeug werden 5 bis 8 cm von-
einander fest umgelegt und immer stärker angezogen, so
daß die Muskeln zwischen zwei Bandstreifen überquellen.
Unsere Kinder im Wickelzeug haben lange nicht so viel zu
leiden als die Kinder bei den karibischen Völkern, bei einer
Nation, die dem Naturzustand noch so viel näher sein soll.
Umsonst arbeiten die Mönche in den Missionen, ohne Rous-
seaus Werke oder auch nur den Namen des Mannes zu kennen,
diesem alten System des Kinderaufziehens entgegen; der Mensch,
der eben aus den Wäldern kommt, an dessen Sitteneinfalt
wir glauben, ist keineswegs gelehrig, wenn es sich von seinem
Putz und von seinen Vorstellungen von Schönheit und Anstand
handelt. Ich wunderte mich übrigens, daß der Zwang, dem
man die armen Kinder unterwirft, und der den Blutumlauf
hemmen sollte, der Muskelbewegung keinen Eintrag thut. Es
gibt auf der Welt kein kräftigeres und schnellfüßigeres Volk
als die Kariben.

Wenn die Weiber ihren Kindern Beine und Schenkel
modeln, um Wellenlinien hervorzubringen, wie die Maler es
nennen, so unterlassen sie es in den Llanos wenigstens, ihnen
von der Geburt an den Kopf zwischen Kissen und Brettern
platt zu drücken. Dieser Brauch, der früher auf den Inseln
und bei manchen karibischen Stämmen in der Parime und in
Französisch-Guyana so verbreitet war, kommt in den Mis-
sionen, die wir besucht haben, nicht vor. Die Leute haben
dort gewölbtere Stirnen als die Chaymas, Otomaken, Macos,
Marvaitanos und die meisten Eingebornen am Orinoko. Nach
systematischem Begriffe sind ihre Stirnen, wie sie ihren geistigen
Fähigkeiten entsprechen. Diese Beobachtung überraschte uns
um so mehr, da die in manchen anatomischen Werken abge-
bildeten Karibenschädel 1 sich von allen Menschenschädeln durch
die niedrigste Stirne und den kleinsten Gesichtswinkel unter-
scheiden. Man hat aber in unseren osteologischen Samm-
lungen Kunstprodukte mit Naturbildungen verwechselt. Die

1 Ich führe als Beispiel nur eine vom berühmten Pater Camper
gezeichnete Tafel an: Viri adulti cranium ex Caraibensium insula
Sancti Vicentii in Museo Clinii asservatum,
1785.

Verdruß ſahen wir hier, wie die karibiſchen Mütter ſchon die
kleinſten Kinder quälen, um ihnen nicht nur die Waden größer
zu machen, ſondern am ganzen Bein vom Knöchel bis oben
am Schenkel das Fleiſch ſtellenweiſe hervorzutreiben. Bänder
von Leder oder Baumwollenzeug werden 5 bis 8 cm von-
einander feſt umgelegt und immer ſtärker angezogen, ſo
daß die Muskeln zwiſchen zwei Bandſtreifen überquellen.
Unſere Kinder im Wickelzeug haben lange nicht ſo viel zu
leiden als die Kinder bei den karibiſchen Völkern, bei einer
Nation, die dem Naturzuſtand noch ſo viel näher ſein ſoll.
Umſonſt arbeiten die Mönche in den Miſſionen, ohne Rouſ-
ſeaus Werke oder auch nur den Namen des Mannes zu kennen,
dieſem alten Syſtem des Kinderaufziehens entgegen; der Menſch,
der eben aus den Wäldern kommt, an deſſen Sitteneinfalt
wir glauben, iſt keineswegs gelehrig, wenn es ſich von ſeinem
Putz und von ſeinen Vorſtellungen von Schönheit und Anſtand
handelt. Ich wunderte mich übrigens, daß der Zwang, dem
man die armen Kinder unterwirft, und der den Blutumlauf
hemmen ſollte, der Muskelbewegung keinen Eintrag thut. Es
gibt auf der Welt kein kräftigeres und ſchnellfüßigeres Volk
als die Kariben.

Wenn die Weiber ihren Kindern Beine und Schenkel
modeln, um Wellenlinien hervorzubringen, wie die Maler es
nennen, ſo unterlaſſen ſie es in den Llanos wenigſtens, ihnen
von der Geburt an den Kopf zwiſchen Kiſſen und Brettern
platt zu drücken. Dieſer Brauch, der früher auf den Inſeln
und bei manchen karibiſchen Stämmen in der Parime und in
Franzöſiſch-Guyana ſo verbreitet war, kommt in den Miſ-
ſionen, die wir beſucht haben, nicht vor. Die Leute haben
dort gewölbtere Stirnen als die Chaymas, Otomaken, Macos,
Marvaitanos und die meiſten Eingebornen am Orinoko. Nach
ſyſtematiſchem Begriffe ſind ihre Stirnen, wie ſie ihren geiſtigen
Fähigkeiten entſprechen. Dieſe Beobachtung überraſchte uns
um ſo mehr, da die in manchen anatomiſchen Werken abge-
bildeten Karibenſchädel 1 ſich von allen Menſchenſchädeln durch
die niedrigſte Stirne und den kleinſten Geſichtswinkel unter-
ſcheiden. Man hat aber in unſeren oſteologiſchen Samm-
lungen Kunſtprodukte mit Naturbildungen verwechſelt. Die

1 Ich führe als Beiſpiel nur eine vom berühmten Pater Camper
gezeichnete Tafel an: Viri adulti cranium ex Caraibensium insula
Sancti Vicentii in Museo Clinii asservatum,
1785.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0250" n="242"/>
Verdruß &#x017F;ahen wir hier, wie die karibi&#x017F;chen Mütter &#x017F;chon die<lb/>
klein&#x017F;ten Kinder quälen, um ihnen nicht nur die Waden größer<lb/>
zu machen, &#x017F;ondern am ganzen Bein vom Knöchel bis oben<lb/>
am Schenkel das Flei&#x017F;ch &#x017F;tellenwei&#x017F;e hervorzutreiben. Bänder<lb/>
von Leder oder Baumwollenzeug werden 5 bis 8 <hi rendition="#aq">cm</hi> von-<lb/>
einander fe&#x017F;t umgelegt und immer &#x017F;tärker angezogen, &#x017F;o<lb/>
daß die Muskeln zwi&#x017F;chen zwei Band&#x017F;treifen überquellen.<lb/>
Un&#x017F;ere Kinder im Wickelzeug haben lange nicht &#x017F;o viel zu<lb/>
leiden als die Kinder bei den karibi&#x017F;chen Völkern, bei einer<lb/>
Nation, die dem Naturzu&#x017F;tand noch &#x017F;o viel näher &#x017F;ein &#x017F;oll.<lb/>
Um&#x017F;on&#x017F;t arbeiten die Mönche in den Mi&#x017F;&#x017F;ionen, ohne Rou&#x017F;-<lb/>
&#x017F;eaus Werke oder auch nur den Namen des Mannes zu kennen,<lb/>
die&#x017F;em alten Sy&#x017F;tem des Kinderaufziehens entgegen; der Men&#x017F;ch,<lb/>
der eben aus den Wäldern kommt, an de&#x017F;&#x017F;en Sitteneinfalt<lb/>
wir glauben, i&#x017F;t keineswegs gelehrig, wenn es &#x017F;ich von &#x017F;einem<lb/>
Putz und von &#x017F;einen Vor&#x017F;tellungen von Schönheit und An&#x017F;tand<lb/>
handelt. Ich wunderte mich übrigens, daß der Zwang, dem<lb/>
man die armen Kinder unterwirft, und der den Blutumlauf<lb/>
hemmen &#x017F;ollte, der Muskelbewegung keinen Eintrag thut. Es<lb/>
gibt auf der Welt kein kräftigeres und &#x017F;chnellfüßigeres Volk<lb/>
als die Kariben.</p><lb/>
          <p>Wenn die Weiber ihren Kindern Beine und Schenkel<lb/>
modeln, um Wellenlinien hervorzubringen, wie die Maler es<lb/>
nennen, &#x017F;o unterla&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie es in den Llanos wenig&#x017F;tens, ihnen<lb/>
von der Geburt an den Kopf zwi&#x017F;chen Ki&#x017F;&#x017F;en und Brettern<lb/>
platt zu drücken. Die&#x017F;er Brauch, der früher auf den In&#x017F;eln<lb/>
und bei manchen karibi&#x017F;chen Stämmen in der Parime und in<lb/>
Franzö&#x017F;i&#x017F;ch-Guyana &#x017F;o verbreitet war, kommt in den Mi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ionen, die wir be&#x017F;ucht haben, nicht vor. Die Leute haben<lb/>
dort gewölbtere Stirnen als die Chaymas, Otomaken, Macos,<lb/>
Marvaitanos und die mei&#x017F;ten Eingebornen am Orinoko. Nach<lb/>
&#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;chem Begriffe &#x017F;ind ihre Stirnen, wie &#x017F;ie ihren gei&#x017F;tigen<lb/>
Fähigkeiten ent&#x017F;prechen. Die&#x017F;e Beobachtung überra&#x017F;chte uns<lb/>
um &#x017F;o mehr, da die in manchen anatomi&#x017F;chen Werken abge-<lb/>
bildeten Kariben&#x017F;chädel <note place="foot" n="1">Ich führe als Bei&#x017F;piel nur eine vom berühmten Pater Camper<lb/>
gezeichnete Tafel an: <hi rendition="#aq">Viri adulti cranium ex Caraibensium insula<lb/>
Sancti Vicentii in Museo Clinii asservatum,</hi> 1785.</note> &#x017F;ich von allen Men&#x017F;chen&#x017F;chädeln durch<lb/>
die niedrig&#x017F;te Stirne und den klein&#x017F;ten Ge&#x017F;ichtswinkel unter-<lb/>
&#x017F;cheiden. Man hat aber in un&#x017F;eren o&#x017F;teologi&#x017F;chen Samm-<lb/>
lungen Kun&#x017F;tprodukte mit Naturbildungen verwech&#x017F;elt. Die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[242/0250] Verdruß ſahen wir hier, wie die karibiſchen Mütter ſchon die kleinſten Kinder quälen, um ihnen nicht nur die Waden größer zu machen, ſondern am ganzen Bein vom Knöchel bis oben am Schenkel das Fleiſch ſtellenweiſe hervorzutreiben. Bänder von Leder oder Baumwollenzeug werden 5 bis 8 cm von- einander feſt umgelegt und immer ſtärker angezogen, ſo daß die Muskeln zwiſchen zwei Bandſtreifen überquellen. Unſere Kinder im Wickelzeug haben lange nicht ſo viel zu leiden als die Kinder bei den karibiſchen Völkern, bei einer Nation, die dem Naturzuſtand noch ſo viel näher ſein ſoll. Umſonſt arbeiten die Mönche in den Miſſionen, ohne Rouſ- ſeaus Werke oder auch nur den Namen des Mannes zu kennen, dieſem alten Syſtem des Kinderaufziehens entgegen; der Menſch, der eben aus den Wäldern kommt, an deſſen Sitteneinfalt wir glauben, iſt keineswegs gelehrig, wenn es ſich von ſeinem Putz und von ſeinen Vorſtellungen von Schönheit und Anſtand handelt. Ich wunderte mich übrigens, daß der Zwang, dem man die armen Kinder unterwirft, und der den Blutumlauf hemmen ſollte, der Muskelbewegung keinen Eintrag thut. Es gibt auf der Welt kein kräftigeres und ſchnellfüßigeres Volk als die Kariben. Wenn die Weiber ihren Kindern Beine und Schenkel modeln, um Wellenlinien hervorzubringen, wie die Maler es nennen, ſo unterlaſſen ſie es in den Llanos wenigſtens, ihnen von der Geburt an den Kopf zwiſchen Kiſſen und Brettern platt zu drücken. Dieſer Brauch, der früher auf den Inſeln und bei manchen karibiſchen Stämmen in der Parime und in Franzöſiſch-Guyana ſo verbreitet war, kommt in den Miſ- ſionen, die wir beſucht haben, nicht vor. Die Leute haben dort gewölbtere Stirnen als die Chaymas, Otomaken, Macos, Marvaitanos und die meiſten Eingebornen am Orinoko. Nach ſyſtematiſchem Begriffe ſind ihre Stirnen, wie ſie ihren geiſtigen Fähigkeiten entſprechen. Dieſe Beobachtung überraſchte uns um ſo mehr, da die in manchen anatomiſchen Werken abge- bildeten Karibenſchädel 1 ſich von allen Menſchenſchädeln durch die niedrigſte Stirne und den kleinſten Geſichtswinkel unter- ſcheiden. Man hat aber in unſeren oſteologiſchen Samm- lungen Kunſtprodukte mit Naturbildungen verwechſelt. Die 1 Ich führe als Beiſpiel nur eine vom berühmten Pater Camper gezeichnete Tafel an: Viri adulti cranium ex Caraibensium insula Sancti Vicentii in Museo Clinii asservatum, 1785.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/250
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/250>, abgerufen am 22.11.2024.