stadt von Guyana, gemeiniglich Angostura genannt, noch 9 Tage zu fahren; es sind nicht ganz 430 km. Wir brachten die Nacht selten am Lande zu; aber die Plage der Moskiten nahm merklich ab, je weiter wir hinabkamen. Am 8. Juni gingen wir bei einem Hofe (Hato de San Rafael del Capuchino), dem Einflusse des Rio Apure gegenüber, ans Land. Ich konnte gute Breiten- und Längenbeobachtungen machen. Ich hatte vor zwei Monaten auf dem anderen Ufer Stundenwinkel aufgenommen, und diese Bestimmungen waren jetzt von Wert, um den Gang meines Chronometers zu kon- trollieren und die Beobachtungsorte am Orinoko mit denen an der Küste von Venezuela in Verbindung zu bringen. Die Lage dieses Hofes am Punkte, wo der Orinoko aus der Rich- tung von Süd nach Nord in die von West nach Ost umbiegt, ist sehr malerisch. Granitfelsen erheben sich wie Eilande auf den weiten Prärieen. Von ihrer Spitze sahen wir nordwärts die Lanos oder Steppen von Calabozo sich bis zum Horizont ausbreiten. Da wir seit lange an den Anblick der Wälder gewöhnt waren, machte diese Aussicht einen großen Eindruck auf uns. Nach Sonnenuntergang bekam die Steppe ein grau- grünes Kolorirt, und da die Sehlinie nur durch die Krüm- mung der Erde abgebrochen wird, so gingen die Sterne wie aus dem Schoße des Meeres auf und der erfahrenste See- mann hätte glauben müssen, er stehe auf einer Felsenküste, auf einem hinausspringenden Vorgebirge. Unser Wirt war ein Franzose (Francois Doizan), der unter seinen zahlreichen Herden lebte. Er hatte seine Muttersprache verlernt, schien aber doch mit Vergnügen zu hören, daß wir aus seiner Hei- mat kamen. Er hatte dieselbe vor 40 Jahren verlassen, und er hätte uns gern ein paar Tage in seinem Hofe behalten. Von den politischen Umwälzungen in Europa war ihm so gut wie nichts zu Ohren gekommen. Er sah darin nur eine Empörung gegen den Klerus und die Mönche. "Diese Em- pörung," sagte er, "wird fortdauern, solange die Mönche Widerstand leisten." Bei einem Manne, der sein ganzes Leben an der Grenze der Missionen zugebracht, wo von nichts die Rede ist, als vom Streit zwischen der geistlichen und der weltlichen Gewalt, war eine solche Ansicht ziemlich natürlich. Die kleinen Städte Caycara und Cabruta sind nur ein paar Kilometer vom Hofe, aber unser Wirt war einen Teil des Jahres hindurch völlig abgeschnitten. Durch die Ueberschwem- mungen des Apure und des Orinoko wird der Capuchino
ſtadt von Guyana, gemeiniglich Angoſtura genannt, noch 9 Tage zu fahren; es ſind nicht ganz 430 km. Wir brachten die Nacht ſelten am Lande zu; aber die Plage der Moskiten nahm merklich ab, je weiter wir hinabkamen. Am 8. Juni gingen wir bei einem Hofe (Hato de San Rafael del Capuchino), dem Einfluſſe des Rio Apure gegenüber, ans Land. Ich konnte gute Breiten- und Längenbeobachtungen machen. Ich hatte vor zwei Monaten auf dem anderen Ufer Stundenwinkel aufgenommen, und dieſe Beſtimmungen waren jetzt von Wert, um den Gang meines Chronometers zu kon- trollieren und die Beobachtungsorte am Orinoko mit denen an der Küſte von Venezuela in Verbindung zu bringen. Die Lage dieſes Hofes am Punkte, wo der Orinoko aus der Rich- tung von Süd nach Nord in die von Weſt nach Oſt umbiegt, iſt ſehr maleriſch. Granitfelſen erheben ſich wie Eilande auf den weiten Prärieen. Von ihrer Spitze ſahen wir nordwärts die Lanos oder Steppen von Calabozo ſich bis zum Horizont ausbreiten. Da wir ſeit lange an den Anblick der Wälder gewöhnt waren, machte dieſe Ausſicht einen großen Eindruck auf uns. Nach Sonnenuntergang bekam die Steppe ein grau- grünes Kolorirt, und da die Sehlinie nur durch die Krüm- mung der Erde abgebrochen wird, ſo gingen die Sterne wie aus dem Schoße des Meeres auf und der erfahrenſte See- mann hätte glauben müſſen, er ſtehe auf einer Felſenküſte, auf einem hinausſpringenden Vorgebirge. Unſer Wirt war ein Franzoſe (François Doizan), der unter ſeinen zahlreichen Herden lebte. Er hatte ſeine Mutterſprache verlernt, ſchien aber doch mit Vergnügen zu hören, daß wir aus ſeiner Hei- mat kamen. Er hatte dieſelbe vor 40 Jahren verlaſſen, und er hätte uns gern ein paar Tage in ſeinem Hofe behalten. Von den politiſchen Umwälzungen in Europa war ihm ſo gut wie nichts zu Ohren gekommen. Er ſah darin nur eine Empörung gegen den Klerus und die Mönche. „Dieſe Em- pörung,“ ſagte er, „wird fortdauern, ſolange die Mönche Widerſtand leiſten.“ Bei einem Manne, der ſein ganzes Leben an der Grenze der Miſſionen zugebracht, wo von nichts die Rede iſt, als vom Streit zwiſchen der geiſtlichen und der weltlichen Gewalt, war eine ſolche Anſicht ziemlich natürlich. Die kleinen Städte Caycara und Cabruta ſind nur ein paar Kilometer vom Hofe, aber unſer Wirt war einen Teil des Jahres hindurch völlig abgeſchnitten. Durch die Ueberſchwem- mungen des Apure und des Orinoko wird der Capuchino
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9 Tage zu fahren; es ſind nicht ganz 430 km. Wir brachten
die Nacht ſelten am Lande zu; aber die Plage der Moskiten
nahm merklich ab, je weiter wir hinabkamen. Am 8. Juni
gingen wir bei einem Hofe (Hato de San Rafael del
Capuchino), dem Einfluſſe des Rio Apure gegenüber, ans
Land. Ich konnte gute Breiten- und Längenbeobachtungen
machen. Ich hatte vor zwei Monaten auf dem anderen Ufer
Stundenwinkel aufgenommen, und dieſe Beſtimmungen waren
jetzt von Wert, um den Gang meines Chronometers zu kon-
trollieren und die Beobachtungsorte am Orinoko mit denen
an der Küſte von Venezuela in Verbindung zu bringen. Die
Lage dieſes Hofes am Punkte, wo der Orinoko aus der Rich-
tung von Süd nach Nord in die von Weſt nach Oſt umbiegt,
iſt ſehr maleriſch. Granitfelſen erheben ſich wie Eilande auf
den weiten Prärieen. Von ihrer Spitze ſahen wir nordwärts
die Lanos oder Steppen von Calabozo ſich bis zum Horizont
ausbreiten. Da wir ſeit lange an den Anblick der Wälder
gewöhnt waren, machte dieſe Ausſicht einen großen Eindruck
auf uns. Nach Sonnenuntergang bekam die Steppe ein grau-
grünes Kolorirt, und da die Sehlinie nur durch die Krüm-
mung der Erde abgebrochen wird, ſo gingen die Sterne wie
aus dem Schoße des Meeres auf und der erfahrenſte See-
mann hätte glauben müſſen, er ſtehe auf einer Felſenküſte,
auf einem hinausſpringenden Vorgebirge. Unſer Wirt war
ein Franzoſe (François Doizan), der unter ſeinen zahlreichen
Herden lebte. Er hatte ſeine Mutterſprache verlernt, ſchien
aber doch mit Vergnügen zu hören, daß wir aus ſeiner Hei-
mat kamen. Er hatte dieſelbe vor 40 Jahren verlaſſen, und
er hätte uns gern ein paar Tage in ſeinem Hofe behalten.
Von den politiſchen Umwälzungen in Europa war ihm ſo
gut wie nichts zu Ohren gekommen. Er ſah darin nur eine
Empörung gegen den Klerus und die Mönche. „Dieſe Em-
pörung,“ ſagte er, „wird fortdauern, ſolange die Mönche
Widerſtand leiſten.“ Bei einem Manne, der ſein ganzes
Leben an der Grenze der Miſſionen zugebracht, wo von nichts
die Rede iſt, als vom Streit zwiſchen der geiſtlichen und der
weltlichen Gewalt, war eine ſolche Anſicht ziemlich natürlich.
Die kleinen Städte Caycara und Cabruta ſind nur ein paar
Kilometer vom Hofe, aber unſer Wirt war einen Teil des
Jahres hindurch völlig abgeſchnitten. Durch die Ueberſchwem-
mungen des Apure und des Orinoko wird der Capuchino
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/149>, abgerufen am 16.02.2025.
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