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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Dämme die Inseln untereinander verbinden. Bald stürzen
die Wasser über die Dämme weg, bald fallen sie mit dumpfem
Getöse in das Innere derselben. Wir fanden ein beträcht-
liches Stück des Orinoko trocken gelegt, weil sich der Strom
durch unterirdische Kanäle einen Weg gebrochen hat. An
diesen einsamen Orten nistet das Felshuhn mit goldigem Ge-
fieder (Pipra rupicola), einer der schönsten tropischen Vögel.
Wir hielten uns im Raudalito von Canucari auf, der durch
ungeheure, aufeinander getürmte Granitblöcke gebildet wird.
Diese Blöcke, worunter Sphäroide von 1,6 bis 2 m Durch-
messer, sind so übereinander geschoben, daß sie geräumige
Höhlen bilden. Wir gingen in eine derselben, um Konferven
zu pflücken, womit die Spalten und die nassen Felswände
bekleidet waren. Dieser Ort bot eines der merkwürdigsten
Naturschauspiele, die wir am Orinoko gesehen. Ueber unseren
Köpfen rauschte der Strom weg, und es brauste, wie wenn
das Meer sich an Klippen bricht; aber am Eingange der
Höhle konnte man trocken hinter einer breiten Wassermasse
stehen, die sich im Bogen über den Steindamm stürzte. In
anderen tieferen, aber nicht so großen Höhlen war das Ge-
stein durch langdauernde Einsickerung durchbohrt. Wir sahen
21 bis 22 cm dicke Wassersäulen von der Decke des Gewölbes
herabkommen und durch Spalten entweichen, die auf weite
Strecken zusammenzuhängen schienen.

Die Wasserfälle in Europa, die aus einem einzigen Sturz
oder aus mehreren dicht hintereinander bestehen, können keine
so mannigfaltigen Landschaftsbilder erzeugen. Diese Mannig-
faltigkeit kommt nur "Stromschnellen" zu, wo auf mehrere
Kilometer weit viel kleine Fälle in einer Reihe hintereinander
liegen, Flüssen, die sich über Felsdämme und durch aufge-
türmte Blöcke Bahn brechen. Wir genossen des Anblicks
dieses außerordentlichen Naturbildes länger, als uns lieb war.
Unser Kanoe sollte am östlichen Ufer einer schmalen Insel
hinfahren und uns nach einem weiten Umweg wieder auf-
nehmen. Wir warteten anderthalb Stunden vergeblich. Die
Nacht kam heran und mit ihr ein furchtbares Gewitter; der
Regen goß in Strömen herab. Wir fürchteten nachgerade,
unser schwaches Fahrzeug möchte an den Felsen zerschellt sein,
und die Indianer mit ihrer gewöhnlichen Gleichgültigkeit beim
Ungemach anderer sich auf den Weg zur Mission gemacht
haben. Wir waren nur unser drei; stark durchnäßt und voll
Sorge um unsere Piroge bangten wir vor der Aussicht, eine

Dämme die Inſeln untereinander verbinden. Bald ſtürzen
die Waſſer über die Dämme weg, bald fallen ſie mit dumpfem
Getöſe in das Innere derſelben. Wir fanden ein beträcht-
liches Stück des Orinoko trocken gelegt, weil ſich der Strom
durch unterirdiſche Kanäle einen Weg gebrochen hat. An
dieſen einſamen Orten niſtet das Felshuhn mit goldigem Ge-
fieder (Pipra rupicola), einer der ſchönſten tropiſchen Vögel.
Wir hielten uns im Raudalito von Canucari auf, der durch
ungeheure, aufeinander getürmte Granitblöcke gebildet wird.
Dieſe Blöcke, worunter Sphäroide von 1,6 bis 2 m Durch-
meſſer, ſind ſo übereinander geſchoben, daß ſie geräumige
Höhlen bilden. Wir gingen in eine derſelben, um Konferven
zu pflücken, womit die Spalten und die naſſen Felswände
bekleidet waren. Dieſer Ort bot eines der merkwürdigſten
Naturſchauſpiele, die wir am Orinoko geſehen. Ueber unſeren
Köpfen rauſchte der Strom weg, und es brauſte, wie wenn
das Meer ſich an Klippen bricht; aber am Eingange der
Höhle konnte man trocken hinter einer breiten Waſſermaſſe
ſtehen, die ſich im Bogen über den Steindamm ſtürzte. In
anderen tieferen, aber nicht ſo großen Höhlen war das Ge-
ſtein durch langdauernde Einſickerung durchbohrt. Wir ſahen
21 bis 22 cm dicke Waſſerſäulen von der Decke des Gewölbes
herabkommen und durch Spalten entweichen, die auf weite
Strecken zuſammenzuhängen ſchienen.

Die Waſſerfälle in Europa, die aus einem einzigen Sturz
oder aus mehreren dicht hintereinander beſtehen, können keine
ſo mannigfaltigen Landſchaftsbilder erzeugen. Dieſe Mannig-
faltigkeit kommt nur „Stromſchnellen“ zu, wo auf mehrere
Kilometer weit viel kleine Fälle in einer Reihe hintereinander
liegen, Flüſſen, die ſich über Felsdämme und durch aufge-
türmte Blöcke Bahn brechen. Wir genoſſen des Anblicks
dieſes außerordentlichen Naturbildes länger, als uns lieb war.
Unſer Kanoe ſollte am öſtlichen Ufer einer ſchmalen Inſel
hinfahren und uns nach einem weiten Umweg wieder auf-
nehmen. Wir warteten anderthalb Stunden vergeblich. Die
Nacht kam heran und mit ihr ein furchtbares Gewitter; der
Regen goß in Strömen herab. Wir fürchteten nachgerade,
unſer ſchwaches Fahrzeug möchte an den Felſen zerſchellt ſein,
und die Indianer mit ihrer gewöhnlichen Gleichgültigkeit beim
Ungemach anderer ſich auf den Weg zur Miſſion gemacht
haben. Wir waren nur unſer drei; ſtark durchnäßt und voll
Sorge um unſere Piroge bangten wir vor der Ausſicht, eine

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[118/0126] Dämme die Inſeln untereinander verbinden. Bald ſtürzen die Waſſer über die Dämme weg, bald fallen ſie mit dumpfem Getöſe in das Innere derſelben. Wir fanden ein beträcht- liches Stück des Orinoko trocken gelegt, weil ſich der Strom durch unterirdiſche Kanäle einen Weg gebrochen hat. An dieſen einſamen Orten niſtet das Felshuhn mit goldigem Ge- fieder (Pipra rupicola), einer der ſchönſten tropiſchen Vögel. Wir hielten uns im Raudalito von Canucari auf, der durch ungeheure, aufeinander getürmte Granitblöcke gebildet wird. Dieſe Blöcke, worunter Sphäroide von 1,6 bis 2 m Durch- meſſer, ſind ſo übereinander geſchoben, daß ſie geräumige Höhlen bilden. Wir gingen in eine derſelben, um Konferven zu pflücken, womit die Spalten und die naſſen Felswände bekleidet waren. Dieſer Ort bot eines der merkwürdigſten Naturſchauſpiele, die wir am Orinoko geſehen. Ueber unſeren Köpfen rauſchte der Strom weg, und es brauſte, wie wenn das Meer ſich an Klippen bricht; aber am Eingange der Höhle konnte man trocken hinter einer breiten Waſſermaſſe ſtehen, die ſich im Bogen über den Steindamm ſtürzte. In anderen tieferen, aber nicht ſo großen Höhlen war das Ge- ſtein durch langdauernde Einſickerung durchbohrt. Wir ſahen 21 bis 22 cm dicke Waſſerſäulen von der Decke des Gewölbes herabkommen und durch Spalten entweichen, die auf weite Strecken zuſammenzuhängen ſchienen. Die Waſſerfälle in Europa, die aus einem einzigen Sturz oder aus mehreren dicht hintereinander beſtehen, können keine ſo mannigfaltigen Landſchaftsbilder erzeugen. Dieſe Mannig- faltigkeit kommt nur „Stromſchnellen“ zu, wo auf mehrere Kilometer weit viel kleine Fälle in einer Reihe hintereinander liegen, Flüſſen, die ſich über Felsdämme und durch aufge- türmte Blöcke Bahn brechen. Wir genoſſen des Anblicks dieſes außerordentlichen Naturbildes länger, als uns lieb war. Unſer Kanoe ſollte am öſtlichen Ufer einer ſchmalen Inſel hinfahren und uns nach einem weiten Umweg wieder auf- nehmen. Wir warteten anderthalb Stunden vergeblich. Die Nacht kam heran und mit ihr ein furchtbares Gewitter; der Regen goß in Strömen herab. Wir fürchteten nachgerade, unſer ſchwaches Fahrzeug möchte an den Felſen zerſchellt ſein, und die Indianer mit ihrer gewöhnlichen Gleichgültigkeit beim Ungemach anderer ſich auf den Weg zur Miſſion gemacht haben. Wir waren nur unſer drei; ſtark durchnäßt und voll Sorge um unſere Piroge bangten wir vor der Ausſicht, eine

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/126>, abgerufen am 22.11.2024.