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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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kann, die wir in den Niederungen gerade über uns sich
bilden sehen.

Im Orinoko sind sehr viele Inseln und der Strom fängt
jetzt an, sich in mehrere Arme zu teilen, deren westlichster in
den Monaten Januar und Februar trocken liegt. Der ganze
Strom ist 3,9 bis 5,8 km breit. Der Insel Javanavo gegen-
über sahen wir gegen Ost die Mündung des Canno Au-
jacoa. Zwischen diesem Canno und dem Rio Paruasi oder
Paruati wird das Land immer stärker bewaldet. Aus einem
Palmenwalde nicht weit vom Orinoko steigt, ungemein malerisch,
ein einzelner Fels empor, ein Granitpfeiler, ein Prisma, dessen
kahle, schroffe Wände gegen 65 m hoch sind. Den Gipfel,
der über die höchsten Waldbäume emporragt, krönt eine ebene,
wagerechte Felsplatte. Auf diesem Gipfel, den die Missionäre
Pik oder Mogote de Cocuyza nennen, stehen wieder Bäume.
Dieses großartig einfache Naturdenkmal erinnert an die cyklo-
pischen Bauwerke. Sein scharf gezeichneter Umriß und oben
darauf die Bäume und das Buschwerk heben sich vom blauen
Himmel ab, ein Wald über einem Walde.

Weiterhin beim Einfluß des Paruasi wird der Orinoko
wieder schmäler. Gegen Osten sahen wir einen Berg mit
plattem Gipfel, der wie ein Vorgebirge herantritt. Er ist
gegen 100 m hoch und diente den Jesuiten als fester Platz.
Sie hatten ein kleines Fort darauf angelegt, das drei Batterien
enthielt, und in dem beständig ein Militärposten lag. In
Carichana und Atures sahen wir die Kanonen ohne Lafetten,
halb im Sande begraben. Die Jesuitenschanze (oder Fortaleza
de San Francisco Xavier
) wurde nach der Aufhebung der
Gesellschaft Jesu zerstört, aber der Ort heißt noch el Castillo.
Auf einer in neuester Zeit in Caracas von einem Weltgeist-
lichen entworfenen, nicht gestochenen Karte führt derselbe den
Namen Trinchera del despotismo monacal (Schanze des
Mönchsdespotismus). In allen politischen Umwälzungen spricht
sich der Geist der Neuerung, der über die Menge kommt, auch
in der geographischen Nomenklatur aus.

Die Besatzung, welche die Jesuiten auf diesem Felsen
hatten, sollte nicht allein die Missionen gegen die Einfälle
der Kariben schützen, sie diente auch zum Angriffskriege, oder,
wie man hier sagt, zur Eroberung von Seelen (conquista
de almas).
Die Soldaten, durch die ausgesetzten Geldbe-
lohnungen angefeuert, machten mit bewaffneter Hand Einfälle
oder Entradas auf das Gebiet unabhängiger Indianer. Man

kann, die wir in den Niederungen gerade über uns ſich
bilden ſehen.

Im Orinoko ſind ſehr viele Inſeln und der Strom fängt
jetzt an, ſich in mehrere Arme zu teilen, deren weſtlichſter in
den Monaten Januar und Februar trocken liegt. Der ganze
Strom iſt 3,9 bis 5,8 km breit. Der Inſel Javanavo gegen-
über ſahen wir gegen Oſt die Mündung des Caño Au-
jacoa. Zwiſchen dieſem Caño und dem Rio Paruaſi oder
Paruati wird das Land immer ſtärker bewaldet. Aus einem
Palmenwalde nicht weit vom Orinoko ſteigt, ungemein maleriſch,
ein einzelner Fels empor, ein Granitpfeiler, ein Prisma, deſſen
kahle, ſchroffe Wände gegen 65 m hoch ſind. Den Gipfel,
der über die höchſten Waldbäume emporragt, krönt eine ebene,
wagerechte Felsplatte. Auf dieſem Gipfel, den die Miſſionäre
Pik oder Mogote de Cocuyza nennen, ſtehen wieder Bäume.
Dieſes großartig einfache Naturdenkmal erinnert an die cyklo-
piſchen Bauwerke. Sein ſcharf gezeichneter Umriß und oben
darauf die Bäume und das Buſchwerk heben ſich vom blauen
Himmel ab, ein Wald über einem Walde.

Weiterhin beim Einfluß des Paruaſi wird der Orinoko
wieder ſchmäler. Gegen Oſten ſahen wir einen Berg mit
plattem Gipfel, der wie ein Vorgebirge herantritt. Er iſt
gegen 100 m hoch und diente den Jeſuiten als feſter Platz.
Sie hatten ein kleines Fort darauf angelegt, das drei Batterien
enthielt, und in dem beſtändig ein Militärpoſten lag. In
Carichana und Atures ſahen wir die Kanonen ohne Lafetten,
halb im Sande begraben. Die Jeſuitenſchanze (oder Fortaleza
de San Francisco Xavier
) wurde nach der Aufhebung der
Geſellſchaft Jeſu zerſtört, aber der Ort heißt noch el Castillo.
Auf einer in neueſter Zeit in Caracas von einem Weltgeiſt-
lichen entworfenen, nicht geſtochenen Karte führt derſelbe den
Namen Trinchera del despotismo monacal (Schanze des
Mönchsdeſpotismus). In allen politiſchen Umwälzungen ſpricht
ſich der Geiſt der Neuerung, der über die Menge kommt, auch
in der geographiſchen Nomenklatur aus.

Die Beſatzung, welche die Jeſuiten auf dieſem Felſen
hatten, ſollte nicht allein die Miſſionen gegen die Einfälle
der Kariben ſchützen, ſie diente auch zum Angriffskriege, oder,
wie man hier ſagt, zur Eroberung von Seelen (conquista
de almas).
Die Soldaten, durch die ausgeſetzten Geldbe-
lohnungen angefeuert, machten mit bewaffneter Hand Einfälle
oder Entradas auf das Gebiet unabhängiger Indianer. Man

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[82/0090] kann, die wir in den Niederungen gerade über uns ſich bilden ſehen. Im Orinoko ſind ſehr viele Inſeln und der Strom fängt jetzt an, ſich in mehrere Arme zu teilen, deren weſtlichſter in den Monaten Januar und Februar trocken liegt. Der ganze Strom iſt 3,9 bis 5,8 km breit. Der Inſel Javanavo gegen- über ſahen wir gegen Oſt die Mündung des Caño Au- jacoa. Zwiſchen dieſem Caño und dem Rio Paruaſi oder Paruati wird das Land immer ſtärker bewaldet. Aus einem Palmenwalde nicht weit vom Orinoko ſteigt, ungemein maleriſch, ein einzelner Fels empor, ein Granitpfeiler, ein Prisma, deſſen kahle, ſchroffe Wände gegen 65 m hoch ſind. Den Gipfel, der über die höchſten Waldbäume emporragt, krönt eine ebene, wagerechte Felsplatte. Auf dieſem Gipfel, den die Miſſionäre Pik oder Mogote de Cocuyza nennen, ſtehen wieder Bäume. Dieſes großartig einfache Naturdenkmal erinnert an die cyklo- piſchen Bauwerke. Sein ſcharf gezeichneter Umriß und oben darauf die Bäume und das Buſchwerk heben ſich vom blauen Himmel ab, ein Wald über einem Walde. Weiterhin beim Einfluß des Paruaſi wird der Orinoko wieder ſchmäler. Gegen Oſten ſahen wir einen Berg mit plattem Gipfel, der wie ein Vorgebirge herantritt. Er iſt gegen 100 m hoch und diente den Jeſuiten als feſter Platz. Sie hatten ein kleines Fort darauf angelegt, das drei Batterien enthielt, und in dem beſtändig ein Militärpoſten lag. In Carichana und Atures ſahen wir die Kanonen ohne Lafetten, halb im Sande begraben. Die Jeſuitenſchanze (oder Fortaleza de San Francisco Xavier) wurde nach der Aufhebung der Geſellſchaft Jeſu zerſtört, aber der Ort heißt noch el Castillo. Auf einer in neueſter Zeit in Caracas von einem Weltgeiſt- lichen entworfenen, nicht geſtochenen Karte führt derſelbe den Namen Trinchera del despotismo monacal (Schanze des Mönchsdeſpotismus). In allen politiſchen Umwälzungen ſpricht ſich der Geiſt der Neuerung, der über die Menge kommt, auch in der geographiſchen Nomenklatur aus. Die Beſatzung, welche die Jeſuiten auf dieſem Felſen hatten, ſollte nicht allein die Miſſionen gegen die Einfälle der Kariben ſchützen, ſie diente auch zum Angriffskriege, oder, wie man hier ſagt, zur Eroberung von Seelen (conquista de almas). Die Soldaten, durch die ausgeſetzten Geldbe- lohnungen angefeuert, machten mit bewaffneter Hand Einfälle oder Entradas auf das Gebiet unabhängiger Indianer. Man

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/90>, abgerufen am 28.11.2024.