seinem König geleistet, indem er den Eltern die Kinder (los Indiecitos) genommen und in die Missionen verteilt." Welch seltsamen Eindruck machte es, in dieser weiten Einöde bei einem Manne, der von europäischer Abkunft zu sein glaubt und kein anderes Obdach kennt als den Schatten eines Baumes, alle eitle Anmaßung, alle ererbten Vorurteile, alle Verkehrt- heiten einer alten Kultur anzutreffen!
Am 1. April. Mit Sonnenaufgang verabschiedeten wir uns von Sennor Don Ignacio und von Sennora Donna Isa- bela, seiner Gemahlin. Die Luft war abgekühlt; der Thermo- meter, der bei Tag meist auf 30 bis 35° stand, war auf 24° gefallen. Die Temperatur des Flusses blieb sich fast ganz gleich, sie war fortwährend 26 bis 27°. Der Strom trieb eine ungeheure Menge Baumstämme. Man sollte meinen, auf einem völlig ebenen Boden, wo das Auge nicht die ge- ringste Erhöhung bemerkt, hätte sich der Fluß durch die Gewalt seiner Strömung einen ganz geraden Kanal graben müssen. Ein Blick auf die Karte, die ich nach meinen Aufnahmen mit dem Kompaß entworfen, zeigt das Gegenteil. Das abspülende Wasser findet an beiden Ufern nicht denselben Widerstand, und fast unmerkliche Bodenerhöhungen geben zu starken Krüm- mungen Anlaß. Unterhalb des Jovals, wo das Flußbett etwas breiter wird, bildet dasselbe wirklich einen Kanal, der mit der Schnur gezogen scheint und zu beiden Seiten von sehr hohen Bäumen beschattet ist. Dieses Stück des Flusses heißt Canno rico; ich fand dasselbe 265 m breit. Wir kamen an einer niedrigen Insel vorüber, auf der Flamingo, rosen- farbige Löffelgänse, Reiher und Wasserhühner, die das mannig- faltigste Farbenspiel boten, zu Tausenden nisteten. Die Vögel waren so dicht aneinander gedrängt, daß man meinte, sie könnten sich gar nicht rühren. Die Insel heißt Isla de Aves. Weiterhin fuhren wir an der Stelle vorbei, wo der Apure einen Arm (den Rio Arichuna) an den Cabullare ab- gibt und dadurch bedeutend an Wasser verliert. Wir hielten am rechten Ufer bei einer kleinen indianischen, vom Stamme der Guamos bewohnten Mission. Es standen erst 16 bis 18 Hütten aus Palmblättern; aber auf den statistischen Ta- bellen, welche die Missionäre jährlich bei Hofe einreichen, wird diese Gruppe von Hütten als das Dorf Santa Barbara de Arichuna aufgeführt.
Die Guamos sind ein Indianerstamm, der sehr schwer seßhaft zu machen ist. Sie haben in ihren Sitten vieles mit
ſeinem König geleiſtet, indem er den Eltern die Kinder (los Indiecitos) genommen und in die Miſſionen verteilt.“ Welch ſeltſamen Eindruck machte es, in dieſer weiten Einöde bei einem Manne, der von europäiſcher Abkunft zu ſein glaubt und kein anderes Obdach kennt als den Schatten eines Baumes, alle eitle Anmaßung, alle ererbten Vorurteile, alle Verkehrt- heiten einer alten Kultur anzutreffen!
Am 1. April. Mit Sonnenaufgang verabſchiedeten wir uns von Señor Don Ignacio und von Señora Doña Iſa- bela, ſeiner Gemahlin. Die Luft war abgekühlt; der Thermo- meter, der bei Tag meiſt auf 30 bis 35° ſtand, war auf 24° gefallen. Die Temperatur des Fluſſes blieb ſich faſt ganz gleich, ſie war fortwährend 26 bis 27°. Der Strom trieb eine ungeheure Menge Baumſtämme. Man ſollte meinen, auf einem völlig ebenen Boden, wo das Auge nicht die ge- ringſte Erhöhung bemerkt, hätte ſich der Fluß durch die Gewalt ſeiner Strömung einen ganz geraden Kanal graben müſſen. Ein Blick auf die Karte, die ich nach meinen Aufnahmen mit dem Kompaß entworfen, zeigt das Gegenteil. Das abſpülende Waſſer findet an beiden Ufern nicht denſelben Widerſtand, und faſt unmerkliche Bodenerhöhungen geben zu ſtarken Krüm- mungen Anlaß. Unterhalb des Jovals, wo das Flußbett etwas breiter wird, bildet dasſelbe wirklich einen Kanal, der mit der Schnur gezogen ſcheint und zu beiden Seiten von ſehr hohen Bäumen beſchattet iſt. Dieſes Stück des Fluſſes heißt Caño rico; ich fand dasſelbe 265 m breit. Wir kamen an einer niedrigen Inſel vorüber, auf der Flamingo, roſen- farbige Löffelgänſe, Reiher und Waſſerhühner, die das mannig- faltigſte Farbenſpiel boten, zu Tauſenden niſteten. Die Vögel waren ſo dicht aneinander gedrängt, daß man meinte, ſie könnten ſich gar nicht rühren. Die Inſel heißt Isla de Aves. Weiterhin fuhren wir an der Stelle vorbei, wo der Apure einen Arm (den Rio Arichuna) an den Cabullare ab- gibt und dadurch bedeutend an Waſſer verliert. Wir hielten am rechten Ufer bei einer kleinen indianiſchen, vom Stamme der Guamos bewohnten Miſſion. Es ſtanden erſt 16 bis 18 Hütten aus Palmblättern; aber auf den ſtatiſtiſchen Ta- bellen, welche die Miſſionäre jährlich bei Hofe einreichen, wird dieſe Gruppe von Hütten als das Dorf Santa Barbara de Arichuna aufgeführt.
Die Guamos ſind ein Indianerſtamm, der ſehr ſchwer ſeßhaft zu machen iſt. Sie haben in ihren Sitten vieles mit
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Indiecitos) genommen und in die Miſſionen verteilt.“ Welch
ſeltſamen Eindruck machte es, in dieſer weiten Einöde bei
einem Manne, der von europäiſcher Abkunft zu ſein glaubt
und kein anderes Obdach kennt als den Schatten eines Baumes,
alle eitle Anmaßung, alle ererbten Vorurteile, alle Verkehrt-
heiten einer alten Kultur anzutreffen!
Am 1. April. Mit Sonnenaufgang verabſchiedeten wir
uns von Señor Don Ignacio und von Señora Doña Iſa-
bela, ſeiner Gemahlin. Die Luft war abgekühlt; der Thermo-
meter, der bei Tag meiſt auf 30 bis 35° ſtand, war auf 24°
gefallen. Die Temperatur des Fluſſes blieb ſich faſt ganz
gleich, ſie war fortwährend 26 bis 27°. Der Strom trieb
eine ungeheure Menge Baumſtämme. Man ſollte meinen,
auf einem völlig ebenen Boden, wo das Auge nicht die ge-
ringſte Erhöhung bemerkt, hätte ſich der Fluß durch die Gewalt
ſeiner Strömung einen ganz geraden Kanal graben müſſen.
Ein Blick auf die Karte, die ich nach meinen Aufnahmen mit
dem Kompaß entworfen, zeigt das Gegenteil. Das abſpülende
Waſſer findet an beiden Ufern nicht denſelben Widerſtand,
und faſt unmerkliche Bodenerhöhungen geben zu ſtarken Krüm-
mungen Anlaß. Unterhalb des Jovals, wo das Flußbett
etwas breiter wird, bildet dasſelbe wirklich einen Kanal, der
mit der Schnur gezogen ſcheint und zu beiden Seiten von
ſehr hohen Bäumen beſchattet iſt. Dieſes Stück des Fluſſes
heißt Caño rico; ich fand dasſelbe 265 m breit. Wir kamen
an einer niedrigen Inſel vorüber, auf der Flamingo, roſen-
farbige Löffelgänſe, Reiher und Waſſerhühner, die das mannig-
faltigſte Farbenſpiel boten, zu Tauſenden niſteten. Die Vögel
waren ſo dicht aneinander gedrängt, daß man meinte, ſie
könnten ſich gar nicht rühren. Die Inſel heißt Isla de
Aves. Weiterhin fuhren wir an der Stelle vorbei, wo der
Apure einen Arm (den Rio Arichuna) an den Cabullare ab-
gibt und dadurch bedeutend an Waſſer verliert. Wir hielten
am rechten Ufer bei einer kleinen indianiſchen, vom Stamme
der Guamos bewohnten Miſſion. Es ſtanden erſt 16 bis
18 Hütten aus Palmblättern; aber auf den ſtatiſtiſchen Ta-
bellen, welche die Miſſionäre jährlich bei Hofe einreichen, wird
dieſe Gruppe von Hütten als das Dorf Santa Barbara
de Arichuna aufgeführt.
Die Guamos ſind ein Indianerſtamm, der ſehr ſchwer
ſeßhaft zu machen iſt. Sie haben in ihren Sitten vieles mit
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/34>, abgerufen am 16.07.2024.
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