Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

großen Hundes ergriffen sie die Flucht. Da das Hintergestell
bei ihnen höher ist als das Vordergestell, so laufen sie im
kurzen Galopp, kommen aber dabei so wenig vorwärts, daß
wir zwei fangen konnten. Der Chiguire, der sehr fertig
schwimmt, läßt im Laufen ein leises Seufzen hören, als ob
ihm das Atmen beschwerlich würde. Er ist das größte Tier
in der Familie der Nager; er setzt sich nur in der äußersten
Not zur Wehre, wenn er umringt und verwundet ist. Da
seine Backzähne, besonders die hinteren, ausnehmend stark und
ziemlich lang sind, so kann er mit seinem Bisse einem Tiger
die Tatze oder einem Pferde den Fuß zerreißen. Sein Fleisch
hat einen ziemlich unangenehmen Moschusgeruch; man macht
indessen im Lande Schinken daraus, und dies rechtfertigt ge-
wissermaßen den Namen Wasserschwein, den manche alte
Naturgeschichtschreiber dem Chiguire beilegen. Die geistlichen
Missionäre lassen sich in den Fasten diese Schinken ohne Be-
denken schmecken; in ihrem zoologischen System stehen das
Gürteltier, das Wasserschwein und der Lamantin oder die
Seekuh neben den Schildkröten; ersteres, weil es mit einer
harten Kruste, einer Art Schale bedeckt ist, die beiden anderen,
weil sie im Wasser wie auf dem Lande leben. An den Ufern
des Santo Domingo, Apure und Arauca, in den Sümpfen
und auf den überschwemmten Savannen der Llanos kommen
die Chiguire in solcher Menge vor, daß die Weiden darunter
leiden. Sie fressen das Kraut weg, von dem die Pferde
am fettesten werden, und das Chiguirero (Kraut des
Chiguire) heißt. Sie fressen auch Fische, und wir sahen mit
Verwunderung, daß das Tier, wenn es, erschreckt durch ein
nahendes Kanoe, untertaucht, 8 bis 10 Minuten unter Wasser
bleibt.

Wir brachten die Nacht, wie immer, unter freiem Himmel
zu, obgleich auf einer Pflanzung, deren Besitzer die Tiger-
jagd trieb. Er war fast ganz nackt und schwärzlich braun wie
ein Zambo, zählte sich aber nichtsdestoweniger zum weißen
Menschenschlage. Seine Frau und seine Tochter, die so nackt
waren wie er, nannte er Dosia Isabela und Donna Manuela.
Obgleich er nie vom Ufer des Apure weggekommen, nahm
er den lebendigsten Anteil "an den Neuigkeiten aus Madrid,
an den Kriegen, deren kein Ende abzusehen, und an all den
Geschichten dort drüben (todas las cosas de alla)". Er
wußte, daß der König von Spanien bald zum Besuche "Ihrer
Herrlichkeiten im Lande Caracas" herüberkommen würde, setzte

großen Hundes ergriffen ſie die Flucht. Da das Hintergeſtell
bei ihnen höher iſt als das Vordergeſtell, ſo laufen ſie im
kurzen Galopp, kommen aber dabei ſo wenig vorwärts, daß
wir zwei fangen konnten. Der Chiguire, der ſehr fertig
ſchwimmt, läßt im Laufen ein leiſes Seufzen hören, als ob
ihm das Atmen beſchwerlich würde. Er iſt das größte Tier
in der Familie der Nager; er ſetzt ſich nur in der äußerſten
Not zur Wehre, wenn er umringt und verwundet iſt. Da
ſeine Backzähne, beſonders die hinteren, ausnehmend ſtark und
ziemlich lang ſind, ſo kann er mit ſeinem Biſſe einem Tiger
die Tatze oder einem Pferde den Fuß zerreißen. Sein Fleiſch
hat einen ziemlich unangenehmen Moſchusgeruch; man macht
indeſſen im Lande Schinken daraus, und dies rechtfertigt ge-
wiſſermaßen den Namen Waſſerſchwein, den manche alte
Naturgeſchichtſchreiber dem Chiguire beilegen. Die geiſtlichen
Miſſionäre laſſen ſich in den Faſten dieſe Schinken ohne Be-
denken ſchmecken; in ihrem zoologiſchen Syſtem ſtehen das
Gürteltier, das Waſſerſchwein und der Lamantin oder die
Seekuh neben den Schildkröten; erſteres, weil es mit einer
harten Kruſte, einer Art Schale bedeckt iſt, die beiden anderen,
weil ſie im Waſſer wie auf dem Lande leben. An den Ufern
des Santo Domingo, Apure und Arauca, in den Sümpfen
und auf den überſchwemmten Savannen der Llanos kommen
die Chiguire in ſolcher Menge vor, daß die Weiden darunter
leiden. Sie freſſen das Kraut weg, von dem die Pferde
am fetteſten werden, und das Chiguirero (Kraut des
Chiguire) heißt. Sie freſſen auch Fiſche, und wir ſahen mit
Verwunderung, daß das Tier, wenn es, erſchreckt durch ein
nahendes Kanoe, untertaucht, 8 bis 10 Minuten unter Waſſer
bleibt.

Wir brachten die Nacht, wie immer, unter freiem Himmel
zu, obgleich auf einer Pflanzung, deren Beſitzer die Tiger-
jagd trieb. Er war faſt ganz nackt und ſchwärzlich braun wie
ein Zambo, zählte ſich aber nichtsdeſtoweniger zum weißen
Menſchenſchlage. Seine Frau und ſeine Tochter, die ſo nackt
waren wie er, nannte er Doſia Iſabela und Doña Manuela.
Obgleich er nie vom Ufer des Apure weggekommen, nahm
er den lebendigſten Anteil „an den Neuigkeiten aus Madrid,
an den Kriegen, deren kein Ende abzuſehen, und an all den
Geſchichten dort drüben (todas las cosas de allà)“. Er
wußte, daß der König von Spanien bald zum Beſuche „Ihrer
Herrlichkeiten im Lande Caracas“ herüberkommen würde, ſetzte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0032" n="24"/>
großen Hundes ergriffen &#x017F;ie die Flucht. Da das Hinterge&#x017F;tell<lb/>
bei ihnen höher i&#x017F;t als das Vorderge&#x017F;tell, &#x017F;o laufen &#x017F;ie im<lb/>
kurzen Galopp, kommen aber dabei &#x017F;o wenig vorwärts, daß<lb/>
wir zwei fangen konnten. Der Chiguire, der &#x017F;ehr fertig<lb/>
&#x017F;chwimmt, läßt im Laufen ein lei&#x017F;es Seufzen hören, als ob<lb/>
ihm das Atmen be&#x017F;chwerlich würde. Er i&#x017F;t das größte Tier<lb/>
in der Familie der Nager; er &#x017F;etzt &#x017F;ich nur in der äußer&#x017F;ten<lb/>
Not zur Wehre, wenn er umringt und verwundet i&#x017F;t. Da<lb/>
&#x017F;eine Backzähne, be&#x017F;onders die hinteren, ausnehmend &#x017F;tark und<lb/>
ziemlich lang &#x017F;ind, &#x017F;o kann er mit &#x017F;einem Bi&#x017F;&#x017F;e einem Tiger<lb/>
die Tatze oder einem Pferde den Fuß zerreißen. Sein Flei&#x017F;ch<lb/>
hat einen ziemlich unangenehmen Mo&#x017F;chusgeruch; man macht<lb/>
inde&#x017F;&#x017F;en im Lande Schinken daraus, und dies rechtfertigt ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;ermaßen den Namen <hi rendition="#g">Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;chwein</hi>, den manche alte<lb/>
Naturge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber dem Chiguire beilegen. Die gei&#x017F;tlichen<lb/>
Mi&#x017F;&#x017F;ionäre la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich in den Fa&#x017F;ten die&#x017F;e Schinken ohne Be-<lb/>
denken &#x017F;chmecken; in ihrem zoologi&#x017F;chen Sy&#x017F;tem &#x017F;tehen das<lb/>
Gürteltier, das Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;chwein und der Lamantin oder die<lb/>
Seekuh neben den Schildkröten; er&#x017F;teres, weil es mit einer<lb/>
harten Kru&#x017F;te, einer Art Schale bedeckt i&#x017F;t, die beiden anderen,<lb/>
weil &#x017F;ie im Wa&#x017F;&#x017F;er wie auf dem Lande leben. An den Ufern<lb/>
des Santo Domingo, Apure und Arauca, in den Sümpfen<lb/>
und auf den über&#x017F;chwemmten Savannen der Llanos kommen<lb/>
die Chiguire in &#x017F;olcher Menge vor, daß die Weiden darunter<lb/>
leiden. Sie fre&#x017F;&#x017F;en das Kraut weg, von dem die Pferde<lb/>
am fette&#x017F;ten werden, und das <hi rendition="#g">Chiguirero</hi> (Kraut des<lb/>
Chiguire) heißt. Sie fre&#x017F;&#x017F;en auch Fi&#x017F;che, und wir &#x017F;ahen mit<lb/>
Verwunderung, daß das Tier, wenn es, er&#x017F;chreckt durch ein<lb/>
nahendes Kanoe, untertaucht, 8 bis 10 Minuten unter Wa&#x017F;&#x017F;er<lb/>
bleibt.</p><lb/>
          <p>Wir brachten die Nacht, wie immer, unter freiem Himmel<lb/>
zu, obgleich auf einer <hi rendition="#g">Pflanzung</hi>, deren Be&#x017F;itzer die Tiger-<lb/>
jagd trieb. Er war fa&#x017F;t ganz nackt und &#x017F;chwärzlich braun wie<lb/>
ein Zambo, zählte &#x017F;ich aber nichtsde&#x017F;toweniger zum weißen<lb/>
Men&#x017F;chen&#x017F;chlage. Seine Frau und &#x017F;eine Tochter, die &#x017F;o nackt<lb/>
waren wie er, nannte er Do&#x017F;ia I&#x017F;abela und Doña Manuela.<lb/>
Obgleich er nie vom Ufer des Apure weggekommen, nahm<lb/>
er den lebendig&#x017F;ten Anteil &#x201E;an den Neuigkeiten aus Madrid,<lb/>
an den Kriegen, deren kein Ende abzu&#x017F;ehen, und an all den<lb/>
Ge&#x017F;chichten dort drüben (<hi rendition="#aq">todas las cosas de allà</hi>)&#x201C;. Er<lb/>
wußte, daß der König von Spanien bald zum Be&#x017F;uche &#x201E;Ihrer<lb/>
Herrlichkeiten im Lande Caracas&#x201C; herüberkommen würde, &#x017F;etzte<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[24/0032] großen Hundes ergriffen ſie die Flucht. Da das Hintergeſtell bei ihnen höher iſt als das Vordergeſtell, ſo laufen ſie im kurzen Galopp, kommen aber dabei ſo wenig vorwärts, daß wir zwei fangen konnten. Der Chiguire, der ſehr fertig ſchwimmt, läßt im Laufen ein leiſes Seufzen hören, als ob ihm das Atmen beſchwerlich würde. Er iſt das größte Tier in der Familie der Nager; er ſetzt ſich nur in der äußerſten Not zur Wehre, wenn er umringt und verwundet iſt. Da ſeine Backzähne, beſonders die hinteren, ausnehmend ſtark und ziemlich lang ſind, ſo kann er mit ſeinem Biſſe einem Tiger die Tatze oder einem Pferde den Fuß zerreißen. Sein Fleiſch hat einen ziemlich unangenehmen Moſchusgeruch; man macht indeſſen im Lande Schinken daraus, und dies rechtfertigt ge- wiſſermaßen den Namen Waſſerſchwein, den manche alte Naturgeſchichtſchreiber dem Chiguire beilegen. Die geiſtlichen Miſſionäre laſſen ſich in den Faſten dieſe Schinken ohne Be- denken ſchmecken; in ihrem zoologiſchen Syſtem ſtehen das Gürteltier, das Waſſerſchwein und der Lamantin oder die Seekuh neben den Schildkröten; erſteres, weil es mit einer harten Kruſte, einer Art Schale bedeckt iſt, die beiden anderen, weil ſie im Waſſer wie auf dem Lande leben. An den Ufern des Santo Domingo, Apure und Arauca, in den Sümpfen und auf den überſchwemmten Savannen der Llanos kommen die Chiguire in ſolcher Menge vor, daß die Weiden darunter leiden. Sie freſſen das Kraut weg, von dem die Pferde am fetteſten werden, und das Chiguirero (Kraut des Chiguire) heißt. Sie freſſen auch Fiſche, und wir ſahen mit Verwunderung, daß das Tier, wenn es, erſchreckt durch ein nahendes Kanoe, untertaucht, 8 bis 10 Minuten unter Waſſer bleibt. Wir brachten die Nacht, wie immer, unter freiem Himmel zu, obgleich auf einer Pflanzung, deren Beſitzer die Tiger- jagd trieb. Er war faſt ganz nackt und ſchwärzlich braun wie ein Zambo, zählte ſich aber nichtsdeſtoweniger zum weißen Menſchenſchlage. Seine Frau und ſeine Tochter, die ſo nackt waren wie er, nannte er Doſia Iſabela und Doña Manuela. Obgleich er nie vom Ufer des Apure weggekommen, nahm er den lebendigſten Anteil „an den Neuigkeiten aus Madrid, an den Kriegen, deren kein Ende abzuſehen, und an all den Geſchichten dort drüben (todas las cosas de allà)“. Er wußte, daß der König von Spanien bald zum Beſuche „Ihrer Herrlichkeiten im Lande Caracas“ herüberkommen würde, ſetzte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/32
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/32>, abgerufen am 24.11.2024.