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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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ungemein zäh und klingend, so daß von den Eingeborenen
in alter Zeit geschliffene, sehr dünne, in der Mitte durch-
bohrte Platten, wenn man sie an einem Faden aufhängt und
mit einem anderen harten Körper1 anschlägt, fast einen me-
tallischen Ton geben.

Bei den Völkern beider Welten finden wir auf der ersten
Stufe der erwachenden Kultur eine besondere Vorliebe für
gewisse Steine, nicht allein für solche, die dem Menschen wegen
ihrer Härte als schneidende Werkzeuge dienen können, sondern
auch für Mineralien, die der Mensch wegen ihrer Farbe oder
wegen ihrer natürlichen Form mit organischen Verrichtungen,
ja mit psychischen Vorgängen verknüpft glaubt. Dieser uralte
Steinkultus, dieser Glaube an die heilsamen Wirkungen des
Nephrits und des Blutsteins kommen den Wilden Amerikas
zu, wie den Bewohnern der Wälder Thrakiens, die wir wegen
der ehrwürdigen Institutionen des Orpheus und des Ursprungs
der Mysterien nicht wohl als Wilde ansprechen können. Der
Mensch, solange er seiner Wiege noch näher steht, empfindet
sich als Autochthone; er fühlt sich wie gefesselt an die Erde
und die Stoffe, die sie in ihrem Schoße birgt. Die Natur-
kräfte, und mehr noch die zerstörenden als die erhaltenden,
sind die frühesten Gegenstände seiner Verehrung. Und diese
Kräfte offenbaren sich nicht allein im Gewitter, im Getöse,
das dem Erdbeben vorangeht, im Feuer der Vulkane; der leb-
lose Fels, die glänzenden, harten Steine, die gewaltigen, frei
aufsteigenden Berge wirken auf die jugendlichen Gemüter mit
einer Gewalt, von der wir bei vorgeschrittener Kultur keinen
Begriff mehr haben. Besteht dieser Steinkultus einmal, so
erhält er sich auch fort neben späteren Kultusformen, und aus
einem Gegenstand religiöser Verehrung wird ein Gegenstand
abergläubischen Vertrauens. Aus Göttersteinen werden Amu-
lette, die vor allen Leiden Körpers und der Seele bewahren.
Obgleich zwischen dem Amazonenstrom und dem Orinoko und
der mexikanischen Hochebene 2250 km liegen, obgleich die Ge-
schichte von keinem Zusammenhang zwischen den wilden Völkern
von Guyana und den civilisierten von Anahuac weiß, fand

1 Brongniart, dem ich nach meiner Rückkehr nach Europa solche
Platten zeigte, verglich diese Nephrite aus der Parime ganz richtig
mit den klingenden Steinen, welche die Chinesen zu ihren musika-
lischen Instrumenten, den sogenannten King, verwenden.

ungemein zäh und klingend, ſo daß von den Eingeborenen
in alter Zeit geſchliffene, ſehr dünne, in der Mitte durch-
bohrte Platten, wenn man ſie an einem Faden aufhängt und
mit einem anderen harten Körper1 anſchlägt, faſt einen me-
talliſchen Ton geben.

Bei den Völkern beider Welten finden wir auf der erſten
Stufe der erwachenden Kultur eine beſondere Vorliebe für
gewiſſe Steine, nicht allein für ſolche, die dem Menſchen wegen
ihrer Härte als ſchneidende Werkzeuge dienen können, ſondern
auch für Mineralien, die der Menſch wegen ihrer Farbe oder
wegen ihrer natürlichen Form mit organiſchen Verrichtungen,
ja mit pſychiſchen Vorgängen verknüpft glaubt. Dieſer uralte
Steinkultus, dieſer Glaube an die heilſamen Wirkungen des
Nephrits und des Blutſteins kommen den Wilden Amerikas
zu, wie den Bewohnern der Wälder Thrakiens, die wir wegen
der ehrwürdigen Inſtitutionen des Orpheus und des Urſprungs
der Myſterien nicht wohl als Wilde anſprechen können. Der
Menſch, ſolange er ſeiner Wiege noch näher ſteht, empfindet
ſich als Autochthone; er fühlt ſich wie gefeſſelt an die Erde
und die Stoffe, die ſie in ihrem Schoße birgt. Die Natur-
kräfte, und mehr noch die zerſtörenden als die erhaltenden,
ſind die früheſten Gegenſtände ſeiner Verehrung. Und dieſe
Kräfte offenbaren ſich nicht allein im Gewitter, im Getöſe,
das dem Erdbeben vorangeht, im Feuer der Vulkane; der leb-
loſe Fels, die glänzenden, harten Steine, die gewaltigen, frei
aufſteigenden Berge wirken auf die jugendlichen Gemüter mit
einer Gewalt, von der wir bei vorgeſchrittener Kultur keinen
Begriff mehr haben. Beſteht dieſer Steinkultus einmal, ſo
erhält er ſich auch fort neben ſpäteren Kultusformen, und aus
einem Gegenſtand religiöſer Verehrung wird ein Gegenſtand
abergläubiſchen Vertrauens. Aus Götterſteinen werden Amu-
lette, die vor allen Leiden Körpers und der Seele bewahren.
Obgleich zwiſchen dem Amazonenſtrom und dem Orinoko und
der mexikaniſchen Hochebene 2250 km liegen, obgleich die Ge-
ſchichte von keinem Zuſammenhang zwiſchen den wilden Völkern
von Guyana und den civiliſierten von Anahuac weiß, fand

1 Brongniart, dem ich nach meiner Rückkehr nach Europa ſolche
Platten zeigte, verglich dieſe Nephrite aus der Parime ganz richtig
mit den klingenden Steinen, welche die Chineſen zu ihren muſika-
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[288/0296] ungemein zäh und klingend, ſo daß von den Eingeborenen in alter Zeit geſchliffene, ſehr dünne, in der Mitte durch- bohrte Platten, wenn man ſie an einem Faden aufhängt und mit einem anderen harten Körper 1 anſchlägt, faſt einen me- talliſchen Ton geben. Bei den Völkern beider Welten finden wir auf der erſten Stufe der erwachenden Kultur eine beſondere Vorliebe für gewiſſe Steine, nicht allein für ſolche, die dem Menſchen wegen ihrer Härte als ſchneidende Werkzeuge dienen können, ſondern auch für Mineralien, die der Menſch wegen ihrer Farbe oder wegen ihrer natürlichen Form mit organiſchen Verrichtungen, ja mit pſychiſchen Vorgängen verknüpft glaubt. Dieſer uralte Steinkultus, dieſer Glaube an die heilſamen Wirkungen des Nephrits und des Blutſteins kommen den Wilden Amerikas zu, wie den Bewohnern der Wälder Thrakiens, die wir wegen der ehrwürdigen Inſtitutionen des Orpheus und des Urſprungs der Myſterien nicht wohl als Wilde anſprechen können. Der Menſch, ſolange er ſeiner Wiege noch näher ſteht, empfindet ſich als Autochthone; er fühlt ſich wie gefeſſelt an die Erde und die Stoffe, die ſie in ihrem Schoße birgt. Die Natur- kräfte, und mehr noch die zerſtörenden als die erhaltenden, ſind die früheſten Gegenſtände ſeiner Verehrung. Und dieſe Kräfte offenbaren ſich nicht allein im Gewitter, im Getöſe, das dem Erdbeben vorangeht, im Feuer der Vulkane; der leb- loſe Fels, die glänzenden, harten Steine, die gewaltigen, frei aufſteigenden Berge wirken auf die jugendlichen Gemüter mit einer Gewalt, von der wir bei vorgeſchrittener Kultur keinen Begriff mehr haben. Beſteht dieſer Steinkultus einmal, ſo erhält er ſich auch fort neben ſpäteren Kultusformen, und aus einem Gegenſtand religiöſer Verehrung wird ein Gegenſtand abergläubiſchen Vertrauens. Aus Götterſteinen werden Amu- lette, die vor allen Leiden Körpers und der Seele bewahren. Obgleich zwiſchen dem Amazonenſtrom und dem Orinoko und der mexikaniſchen Hochebene 2250 km liegen, obgleich die Ge- ſchichte von keinem Zuſammenhang zwiſchen den wilden Völkern von Guyana und den civiliſierten von Anahuac weiß, fand 1 Brongniart, dem ich nach meiner Rückkehr nach Europa ſolche Platten zeigte, verglich dieſe Nephrite aus der Parime ganz richtig mit den klingenden Steinen, welche die Chineſen zu ihren muſika- liſchen Inſtrumenten, den ſogenannten King, verwenden.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/296>, abgerufen am 22.11.2024.