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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Für diese Ansichten könnte ich mich fast auf die Autorität
eines Philosophen berufen, den die Physiker noch immer sehr
geringschätzig behandeln, während die ausgezeichnetsten Zoologen
seinem Scharfsinn als Beobachter längst volle Gerechtigkeit
widerfahren lassen. "Warum," sagt Aristoteles in seiner merk-
würdigen Schrift von den Problemen, "hört man bei
Nacht alles besser als bei Tage? Weil alles bei Nacht regungs-
loser ist, da die Wärme fehlt. Dadurch wird überhaupt alles
ruhiger, denn die Sonne ist es, die alles bewegt."1 Sicher

1 Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, daß, so mangelhaft noch
die Physik der Alten war, die Werke des Philosophen von Stagira
ungleich mehr scharfsinnige Beobachtungen enthalten, als die der
anderen Philosophen. Vergeblich sucht man bei Aristoxenes (Liber
de musica
), bei Theophylactus Simocatta (De quaestionibus
physicis
), im fünften Buche von Senecas Quaestiones naturales
eine Erklärung der Verstärkung des Schalles bei Nacht. Ein in den
Schriften der Alten sehr bewanderter Mann, Herr Laurencit, hat
mir eine Stelle des Plutarch mitgeteilt (Tischgespräche, Buch VIII,
Frage 3), welche die angeführte des Aristoteles unterstützt. --
Boethus, der erste der Disputierenden, behauptet, die Kälte bei
Nacht ziehe die Luft zusammen und verdichte sie, und man höre
den Schall bei Tage nicht so gut, weil dann weniger Zwischenräume
zwischen den Atomen seien. Der zweite der Disputierenden, Am-
monius, verwirft die leeren Räume, wie Boethus sie voraussetzt,
und nimmt mit Anaxagoras an, die Luft werde von der Sonne
in eine zitternde und schwankende Bewegung versetzt; man höre bei
Tage schlecht wegen der Staubteile, die im Sonnenschein herum-
treiben und die ein gewisses Zischen und Geräusch verursachen; des
Nachts aber höre diese Bewegung auf und folglich auch das damit
verbundene Geräusch. Boethus versichert, daß er keineswegs Anaxo-
goras meistern wolle, meint aber, das Zischen der kleinsten Teile
müsse man wohl aufgeben, die zitternde Bewegung und das Herum-
treiben derselben im Sonnenschein sei schon hinreichend. Die Luft
macht den Körper und die Substanz der Stimme aus; ist sie also
ruhig und beständig, so läßt sie auch die Teile und Schwingungen
des Schalles gerade, ungeteilt und ohne Hindernis fortgehen und
befördert deren Verbreitung. Windstille ist dem Schalle günstig,
Erschütterung der Luft aber zuwider. Die Bewegung in der Luft
verhindert, daß von einer Stimme artikulierte und ausgebildete
Töne zu den Ohren gelangen, ob sie gleich immer von einer starken
und vielfachen ihnen etwas zuzuführen pflegt. Die Sonne, dieser
große und mächtige Beherrscher des Himmels, bringt auch die klein-
sten Teile der Luft in Bewegung, und sobald er sich zeigt, erregt
und belebt er alle Wesen. -- (Auszug aus Kaltwassers Uebersetzung;

Für dieſe Anſichten könnte ich mich faſt auf die Autorität
eines Philoſophen berufen, den die Phyſiker noch immer ſehr
geringſchätzig behandeln, während die ausgezeichnetſten Zoologen
ſeinem Scharfſinn als Beobachter längſt volle Gerechtigkeit
widerfahren laſſen. „Warum,“ ſagt Ariſtoteles in ſeiner merk-
würdigen Schrift von den Problemen, „hört man bei
Nacht alles beſſer als bei Tage? Weil alles bei Nacht regungs-
loſer iſt, da die Wärme fehlt. Dadurch wird überhaupt alles
ruhiger, denn die Sonne iſt es, die alles bewegt.“1 Sicher

1 Ich bemerke bei dieſer Gelegenheit, daß, ſo mangelhaft noch
die Phyſik der Alten war, die Werke des Philoſophen von Stagira
ungleich mehr ſcharfſinnige Beobachtungen enthalten, als die der
anderen Philoſophen. Vergeblich ſucht man bei Ariſtoxenes (Liber
de musica
), bei Theophylactus Simocatta (De quaestionibus
physicis
), im fünften Buche von Senecas Quaestiones naturales
eine Erklärung der Verſtärkung des Schalles bei Nacht. Ein in den
Schriften der Alten ſehr bewanderter Mann, Herr Laurencit, hat
mir eine Stelle des Plutarch mitgeteilt (Tiſchgeſpräche, Buch VIII,
Frage 3), welche die angeführte des Ariſtoteles unterſtützt. —
Boethus, der erſte der Diſputierenden, behauptet, die Kälte bei
Nacht ziehe die Luft zuſammen und verdichte ſie, und man höre
den Schall bei Tage nicht ſo gut, weil dann weniger Zwiſchenräume
zwiſchen den Atomen ſeien. Der zweite der Diſputierenden, Am-
monius, verwirft die leeren Räume, wie Boethus ſie vorausſetzt,
und nimmt mit Anaxagoras an, die Luft werde von der Sonne
in eine zitternde und ſchwankende Bewegung verſetzt; man höre bei
Tage ſchlecht wegen der Staubteile, die im Sonnenſchein herum-
treiben und die ein gewiſſes Ziſchen und Geräuſch verurſachen; des
Nachts aber höre dieſe Bewegung auf und folglich auch das damit
verbundene Geräuſch. Boethus verſichert, daß er keineswegs Anaxo-
goras meiſtern wolle, meint aber, das Ziſchen der kleinſten Teile
müſſe man wohl aufgeben, die zitternde Bewegung und das Herum-
treiben derſelben im Sonnenſchein ſei ſchon hinreichend. Die Luft
macht den Körper und die Subſtanz der Stimme aus; iſt ſie alſo
ruhig und beſtändig, ſo läßt ſie auch die Teile und Schwingungen
des Schalles gerade, ungeteilt und ohne Hindernis fortgehen und
befördert deren Verbreitung. Windſtille iſt dem Schalle günſtig,
Erſchütterung der Luft aber zuwider. Die Bewegung in der Luft
verhindert, daß von einer Stimme artikulierte und ausgebildete
Töne zu den Ohren gelangen, ob ſie gleich immer von einer ſtarken
und vielfachen ihnen etwas zuzuführen pflegt. Die Sonne, dieſer
große und mächtige Beherrſcher des Himmels, bringt auch die klein-
ſten Teile der Luft in Bewegung, und ſobald er ſich zeigt, erregt
und belebt er alle Weſen. — (Auszug aus Kaltwaſſers Ueberſetzung;
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[135/0143] Für dieſe Anſichten könnte ich mich faſt auf die Autorität eines Philoſophen berufen, den die Phyſiker noch immer ſehr geringſchätzig behandeln, während die ausgezeichnetſten Zoologen ſeinem Scharfſinn als Beobachter längſt volle Gerechtigkeit widerfahren laſſen. „Warum,“ ſagt Ariſtoteles in ſeiner merk- würdigen Schrift von den Problemen, „hört man bei Nacht alles beſſer als bei Tage? Weil alles bei Nacht regungs- loſer iſt, da die Wärme fehlt. Dadurch wird überhaupt alles ruhiger, denn die Sonne iſt es, die alles bewegt.“ 1 Sicher 1 Ich bemerke bei dieſer Gelegenheit, daß, ſo mangelhaft noch die Phyſik der Alten war, die Werke des Philoſophen von Stagira ungleich mehr ſcharfſinnige Beobachtungen enthalten, als die der anderen Philoſophen. Vergeblich ſucht man bei Ariſtoxenes (Liber de musica), bei Theophylactus Simocatta (De quaestionibus physicis), im fünften Buche von Senecas Quaestiones naturales eine Erklärung der Verſtärkung des Schalles bei Nacht. Ein in den Schriften der Alten ſehr bewanderter Mann, Herr Laurencit, hat mir eine Stelle des Plutarch mitgeteilt (Tiſchgeſpräche, Buch VIII, Frage 3), welche die angeführte des Ariſtoteles unterſtützt. — Boethus, der erſte der Diſputierenden, behauptet, die Kälte bei Nacht ziehe die Luft zuſammen und verdichte ſie, und man höre den Schall bei Tage nicht ſo gut, weil dann weniger Zwiſchenräume zwiſchen den Atomen ſeien. Der zweite der Diſputierenden, Am- monius, verwirft die leeren Räume, wie Boethus ſie vorausſetzt, und nimmt mit Anaxagoras an, die Luft werde von der Sonne in eine zitternde und ſchwankende Bewegung verſetzt; man höre bei Tage ſchlecht wegen der Staubteile, die im Sonnenſchein herum- treiben und die ein gewiſſes Ziſchen und Geräuſch verurſachen; des Nachts aber höre dieſe Bewegung auf und folglich auch das damit verbundene Geräuſch. Boethus verſichert, daß er keineswegs Anaxo- goras meiſtern wolle, meint aber, das Ziſchen der kleinſten Teile müſſe man wohl aufgeben, die zitternde Bewegung und das Herum- treiben derſelben im Sonnenſchein ſei ſchon hinreichend. Die Luft macht den Körper und die Subſtanz der Stimme aus; iſt ſie alſo ruhig und beſtändig, ſo läßt ſie auch die Teile und Schwingungen des Schalles gerade, ungeteilt und ohne Hindernis fortgehen und befördert deren Verbreitung. Windſtille iſt dem Schalle günſtig, Erſchütterung der Luft aber zuwider. Die Bewegung in der Luft verhindert, daß von einer Stimme artikulierte und ausgebildete Töne zu den Ohren gelangen, ob ſie gleich immer von einer ſtarken und vielfachen ihnen etwas zuzuführen pflegt. Die Sonne, dieſer große und mächtige Beherrſcher des Himmels, bringt auch die klein- ſten Teile der Luft in Bewegung, und ſobald er ſich zeigt, erregt und belebt er alle Weſen. — (Auszug aus Kaltwaſſers Ueberſetzung;

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/143>, abgerufen am 26.04.2024.