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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Nur der nördliche der großen Katarakte des Orinoko
hat hohe Berge zu beiden Seiten. Das linke Stromufer ist
meist niedriger, gehört aber zu einem Landstrich, der westwärts
von Atures gegen den Pik Uniana ansteigt, einen gegen 975 m
hohen Bergkegel auf einer steil abfallenden Felsmauer. Da-
durch, daß er frei aus der Ebene aufsteigt, nimmt sich dieser
Pik noch großartiger und majestätischer aus. In der Nähe
der Mission, auf dem Landstrich am Katarakt nimmt die
Landschaft bei jedem Schritt einen anderen Charakter an. Auf
engem Raume findet man hier die rauhesten, finstersten Natur-
gebilde neben freiem Felde, bebauten, lachenden Fluren. In
der äußeren Natur wie in unserem Inneren ist der Gegen-
satz der Eindrücke, das Nebeneinander des Großartigen, Drohen-
den, und des Sanften, Friedlichen eine reiche Quelle unserer
Empfindungen und Genüsse.

Ich nehme hier einige zerstreute Züge einer Schilderung
auf, die ich kurz nach meiner Rückkehr nach Europa in einem
anderen Buche entworfen. 1 Die mit zarten Kräutern und
Gräsern bewachsenen Savannen von Atures sind wahre Prärien,
ähnlich unseren europäischen Wiesen; sie werden nie vom
Flusse überschwemmt und scheinen nur der Menschenhand zu
harren, die sie umbricht. Trotz ihrer bedeutenden Ausdeh-
nung sind sie nicht so eintönig wie unsere Ebenen. Sie
laufen um Felsgruppen, um übereinander getürmte Granit-
blöcke her. Dicht am Rande dieser Ebenen, dieser offenen
Fluren stößt man auf Schluchten, in die kaum ein Strahl
der untergehenden Sonne dringt, auf Gründe, wo einem auf
dem feuchten, mit Arum, Helikonia und Lianen dicht be-
wachsenen Boden bei jedem Schritte die wilde Ueppigkeit der
Natur entgegentritt. Ueberall kommen, dem Boden gleich,
die ganz kahlen Granitplatten zu Tage, wie ich sie bei Carichana
beschrieben, und wie ich sie in der Alten Welt nirgends so
ausnehmend breit gesehen habe wie im Orinokothale. Da wo
Quellen aus dem Schoße dieses Gesteines vorbrechen, haben
sich Verrucarien, Psoren und Flechten an den verwitterten
Granit geheftet und Dammerde erzeugt. Kleine Euphorbien,
Peperomien und andere Saftpflanzen sind den kryptogami-
schen Gewächsen gefolgt, und jetzt bildet immergrünes Strauch-
werk, Rhexien, Melastomen mit purpurroten Blüten, grüne
Eilande inmitten der öden steinigen Ebene. Man kommt

1 Ansichten der Natur Band I, Seite 122--138.

Nur der nördliche der großen Katarakte des Orinoko
hat hohe Berge zu beiden Seiten. Das linke Stromufer iſt
meiſt niedriger, gehört aber zu einem Landſtrich, der weſtwärts
von Atures gegen den Pik Uniana anſteigt, einen gegen 975 m
hohen Bergkegel auf einer ſteil abfallenden Felsmauer. Da-
durch, daß er frei aus der Ebene aufſteigt, nimmt ſich dieſer
Pik noch großartiger und majeſtätiſcher aus. In der Nähe
der Miſſion, auf dem Landſtrich am Katarakt nimmt die
Landſchaft bei jedem Schritt einen anderen Charakter an. Auf
engem Raume findet man hier die rauheſten, finſterſten Natur-
gebilde neben freiem Felde, bebauten, lachenden Fluren. In
der äußeren Natur wie in unſerem Inneren iſt der Gegen-
ſatz der Eindrücke, das Nebeneinander des Großartigen, Drohen-
den, und des Sanften, Friedlichen eine reiche Quelle unſerer
Empfindungen und Genüſſe.

Ich nehme hier einige zerſtreute Züge einer Schilderung
auf, die ich kurz nach meiner Rückkehr nach Europa in einem
anderen Buche entworfen. 1 Die mit zarten Kräutern und
Gräſern bewachſenen Savannen von Atures ſind wahre Prärien,
ähnlich unſeren europäiſchen Wieſen; ſie werden nie vom
Fluſſe überſchwemmt und ſcheinen nur der Menſchenhand zu
harren, die ſie umbricht. Trotz ihrer bedeutenden Ausdeh-
nung ſind ſie nicht ſo eintönig wie unſere Ebenen. Sie
laufen um Felsgruppen, um übereinander getürmte Granit-
blöcke her. Dicht am Rande dieſer Ebenen, dieſer offenen
Fluren ſtößt man auf Schluchten, in die kaum ein Strahl
der untergehenden Sonne dringt, auf Gründe, wo einem auf
dem feuchten, mit Arum, Helikonia und Lianen dicht be-
wachſenen Boden bei jedem Schritte die wilde Ueppigkeit der
Natur entgegentritt. Ueberall kommen, dem Boden gleich,
die ganz kahlen Granitplatten zu Tage, wie ich ſie bei Carichana
beſchrieben, und wie ich ſie in der Alten Welt nirgends ſo
ausnehmend breit geſehen habe wie im Orinokothale. Da wo
Quellen aus dem Schoße dieſes Geſteines vorbrechen, haben
ſich Verrucarien, Pſoren und Flechten an den verwitterten
Granit geheftet und Dammerde erzeugt. Kleine Euphorbien,
Peperomien und andere Saftpflanzen ſind den kryptogami-
ſchen Gewächſen gefolgt, und jetzt bildet immergrünes Strauch-
werk, Rhexien, Melaſtomen mit purpurroten Blüten, grüne
Eilande inmitten der öden ſteinigen Ebene. Man kommt

1 Anſichten der Natur Band I, Seite 122—138.
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[121/0129] Nur der nördliche der großen Katarakte des Orinoko hat hohe Berge zu beiden Seiten. Das linke Stromufer iſt meiſt niedriger, gehört aber zu einem Landſtrich, der weſtwärts von Atures gegen den Pik Uniana anſteigt, einen gegen 975 m hohen Bergkegel auf einer ſteil abfallenden Felsmauer. Da- durch, daß er frei aus der Ebene aufſteigt, nimmt ſich dieſer Pik noch großartiger und majeſtätiſcher aus. In der Nähe der Miſſion, auf dem Landſtrich am Katarakt nimmt die Landſchaft bei jedem Schritt einen anderen Charakter an. Auf engem Raume findet man hier die rauheſten, finſterſten Natur- gebilde neben freiem Felde, bebauten, lachenden Fluren. In der äußeren Natur wie in unſerem Inneren iſt der Gegen- ſatz der Eindrücke, das Nebeneinander des Großartigen, Drohen- den, und des Sanften, Friedlichen eine reiche Quelle unſerer Empfindungen und Genüſſe. Ich nehme hier einige zerſtreute Züge einer Schilderung auf, die ich kurz nach meiner Rückkehr nach Europa in einem anderen Buche entworfen. 1 Die mit zarten Kräutern und Gräſern bewachſenen Savannen von Atures ſind wahre Prärien, ähnlich unſeren europäiſchen Wieſen; ſie werden nie vom Fluſſe überſchwemmt und ſcheinen nur der Menſchenhand zu harren, die ſie umbricht. Trotz ihrer bedeutenden Ausdeh- nung ſind ſie nicht ſo eintönig wie unſere Ebenen. Sie laufen um Felsgruppen, um übereinander getürmte Granit- blöcke her. Dicht am Rande dieſer Ebenen, dieſer offenen Fluren ſtößt man auf Schluchten, in die kaum ein Strahl der untergehenden Sonne dringt, auf Gründe, wo einem auf dem feuchten, mit Arum, Helikonia und Lianen dicht be- wachſenen Boden bei jedem Schritte die wilde Ueppigkeit der Natur entgegentritt. Ueberall kommen, dem Boden gleich, die ganz kahlen Granitplatten zu Tage, wie ich ſie bei Carichana beſchrieben, und wie ich ſie in der Alten Welt nirgends ſo ausnehmend breit geſehen habe wie im Orinokothale. Da wo Quellen aus dem Schoße dieſes Geſteines vorbrechen, haben ſich Verrucarien, Pſoren und Flechten an den verwitterten Granit geheftet und Dammerde erzeugt. Kleine Euphorbien, Peperomien und andere Saftpflanzen ſind den kryptogami- ſchen Gewächſen gefolgt, und jetzt bildet immergrünes Strauch- werk, Rhexien, Melaſtomen mit purpurroten Blüten, grüne Eilande inmitten der öden ſteinigen Ebene. Man kommt 1 Anſichten der Natur Band I, Seite 122—138.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/129>, abgerufen am 19.04.2024.