Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

Arimaspen und den Hyperboreern erzählen. Man thäte den
schlichten, zuweilen ein wenig rohen Missionären unrecht,
wenn man glaubte, sie selbst haben diese übertriebenen Mären
erfunden; sie haben sie vielmehr großenteils den Indianer-
geschichten entnommen. In den Missionen erzählt man gern,
wie zur See, wie im Orient, wie überall, wo man sich lang-
weilt. Ein Missionär ist schon nach Standesgebühr nicht zum
Skeptizismus geneigt; er prägt sich ein, was ihm die Ein-
geborenen so oft vorgesagt, und kommt er nach Europa in
die civilisierte Welt zurück, so findet er eine Entschädigung
für seine Beschwerden in der Lust, durch die Erzählung von
Dingen, die er als Thatsachen aufgenommen, durch lebendige
Schilderung des im Raume so weit Entrückten, die Leute in
Verwunderung zu setzen. Ja, diese Cuentos de viageros
y frailes
werden immer unwahrscheinlicher, je weiter man von
den Wäldern am Orinoko weg den Küsten zu kommt, wo
die Weißen wohnen. Läßt man in Cumana, Nueva Barce-
lona und in anderen Seehäfen, die starken Verkehr mit den
Missionen haben, einigen Unglauben merken, so schließt man
einem den Mund mit den wenigen Worten: "Die Patres
haben es gesehen," aber weit über den großen Katarakten,
"mas ariba de los Raudales".

Jetzt, da wir ein so selten besuchtes, von denen, die es
bereist, nur zum Teil beschriebenes Land betreten, habe ich
mehrere Gründe, meine Reisebeschreibung auch ferner in der
Form eines Tagebuches fortzusetzen. Der Leser unterscheidet
dabei leichter, was ich selbst beobachtet, und was ich nach den
Aussagen der Missionäre und Indianer berichte; er begleitet
die Reisenden bei ihren täglichen Beschäftigungen; er sieht
zugleich, wie wenig Zeit ihnen zu Gebote stand und mit welchen
Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatten, und wird in seinem
Urteil nachsichtiger.

Am 15. April. Wir brachen von der Insel Panumana
um 4 Uhr morgens auf, zwei Stunden vor Sonnenaufgang;
der Himmel war großenteils bedeckt und durch dickes, über 40°
hoch stehendes Gewölk fuhren Blitze. Wir wunderten uns,
daß wir nicht donnern hörten; kam es daher, daß das Ge-
witter so ausnehmend hoch stand? Es kam uns vor, als
würden in Europa die elektrischen Schimmer ohne Donner,
das Wetterleuchten, wie man es mit unbestimmtem Ausdruck
nennt, in der Regel weit näher am Horizont gesehen. Beim
bedeckten Himmel, der die strahlende Wärme des Bodens zu-

Arimaſpen und den Hyperboreern erzählen. Man thäte den
ſchlichten, zuweilen ein wenig rohen Miſſionären unrecht,
wenn man glaubte, ſie ſelbſt haben dieſe übertriebenen Mären
erfunden; ſie haben ſie vielmehr großenteils den Indianer-
geſchichten entnommen. In den Miſſionen erzählt man gern,
wie zur See, wie im Orient, wie überall, wo man ſich lang-
weilt. Ein Miſſionär iſt ſchon nach Standesgebühr nicht zum
Skeptizismus geneigt; er prägt ſich ein, was ihm die Ein-
geborenen ſo oft vorgeſagt, und kommt er nach Europa in
die civiliſierte Welt zurück, ſo findet er eine Entſchädigung
für ſeine Beſchwerden in der Luſt, durch die Erzählung von
Dingen, die er als Thatſachen aufgenommen, durch lebendige
Schilderung des im Raume ſo weit Entrückten, die Leute in
Verwunderung zu ſetzen. Ja, dieſe Cuentos de viageros
y frailes
werden immer unwahrſcheinlicher, je weiter man von
den Wäldern am Orinoko weg den Küſten zu kommt, wo
die Weißen wohnen. Läßt man in Cumana, Nueva Barce-
lona und in anderen Seehäfen, die ſtarken Verkehr mit den
Miſſionen haben, einigen Unglauben merken, ſo ſchließt man
einem den Mund mit den wenigen Worten: „Die Patres
haben es geſehen,“ aber weit über den großen Katarakten,
„mas ariba de los Raudales“.

Jetzt, da wir ein ſo ſelten beſuchtes, von denen, die es
bereiſt, nur zum Teil beſchriebenes Land betreten, habe ich
mehrere Gründe, meine Reiſebeſchreibung auch ferner in der
Form eines Tagebuches fortzuſetzen. Der Leſer unterſcheidet
dabei leichter, was ich ſelbſt beobachtet, und was ich nach den
Ausſagen der Miſſionäre und Indianer berichte; er begleitet
die Reiſenden bei ihren täglichen Beſchäftigungen; er ſieht
zugleich, wie wenig Zeit ihnen zu Gebote ſtand und mit welchen
Schwierigkeiten ſie zu kämpfen hatten, und wird in ſeinem
Urteil nachſichtiger.

Am 15. April. Wir brachen von der Inſel Panumana
um 4 Uhr morgens auf, zwei Stunden vor Sonnenaufgang;
der Himmel war großenteils bedeckt und durch dickes, über 40°
hoch ſtehendes Gewölk fuhren Blitze. Wir wunderten uns,
daß wir nicht donnern hörten; kam es daher, daß das Ge-
witter ſo ausnehmend hoch ſtand? Es kam uns vor, als
würden in Europa die elektriſchen Schimmer ohne Donner,
das Wetterleuchten, wie man es mit unbeſtimmtem Ausdruck
nennt, in der Regel weit näher am Horizont geſehen. Beim
bedeckten Himmel, der die ſtrahlende Wärme des Bodens zu-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0111" n="103"/>
Arima&#x017F;pen und den Hyperboreern erzählen. Man thäte den<lb/>
&#x017F;chlichten, zuweilen ein wenig rohen Mi&#x017F;&#x017F;ionären unrecht,<lb/>
wenn man glaubte, &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t haben die&#x017F;e übertriebenen Mären<lb/>
erfunden; &#x017F;ie haben &#x017F;ie vielmehr großenteils den Indianer-<lb/>
ge&#x017F;chichten entnommen. In den Mi&#x017F;&#x017F;ionen erzählt man gern,<lb/>
wie zur See, wie im Orient, wie überall, wo man &#x017F;ich lang-<lb/>
weilt. Ein Mi&#x017F;&#x017F;ionär i&#x017F;t &#x017F;chon nach Standesgebühr nicht zum<lb/>
Skeptizismus geneigt; er prägt &#x017F;ich ein, was ihm die Ein-<lb/>
geborenen &#x017F;o oft vorge&#x017F;agt, und kommt er nach Europa in<lb/>
die civili&#x017F;ierte Welt zurück, &#x017F;o findet er eine Ent&#x017F;chädigung<lb/>
für &#x017F;eine Be&#x017F;chwerden in der Lu&#x017F;t, durch die Erzählung von<lb/>
Dingen, die er als That&#x017F;achen aufgenommen, durch lebendige<lb/>
Schilderung des im Raume &#x017F;o weit Entrückten, die Leute in<lb/>
Verwunderung zu &#x017F;etzen. Ja, die&#x017F;e <hi rendition="#aq">Cuentos de viageros<lb/>
y frailes</hi> werden immer unwahr&#x017F;cheinlicher, je weiter man von<lb/>
den Wäldern am Orinoko weg den Kü&#x017F;ten zu kommt, wo<lb/>
die Weißen wohnen. Läßt man in Cumana, Nueva Barce-<lb/>
lona und in anderen Seehäfen, die &#x017F;tarken Verkehr mit den<lb/>
Mi&#x017F;&#x017F;ionen haben, einigen Unglauben merken, &#x017F;o &#x017F;chließt man<lb/>
einem den Mund mit den wenigen Worten: &#x201E;Die Patres<lb/>
haben es ge&#x017F;ehen,&#x201C; aber weit über den großen Katarakten,<lb/><hi rendition="#aq">&#x201E;mas ariba de los Raudales&#x201C;.</hi></p><lb/>
          <p>Jetzt, da wir ein &#x017F;o &#x017F;elten be&#x017F;uchtes, von denen, die es<lb/>
berei&#x017F;t, nur zum Teil be&#x017F;chriebenes Land betreten, habe ich<lb/>
mehrere Gründe, meine Rei&#x017F;ebe&#x017F;chreibung auch ferner in der<lb/>
Form eines Tagebuches fortzu&#x017F;etzen. Der Le&#x017F;er unter&#x017F;cheidet<lb/>
dabei leichter, was ich &#x017F;elb&#x017F;t beobachtet, und was ich nach den<lb/>
Aus&#x017F;agen der Mi&#x017F;&#x017F;ionäre und Indianer berichte; er begleitet<lb/>
die Rei&#x017F;enden bei ihren täglichen Be&#x017F;chäftigungen; er &#x017F;ieht<lb/>
zugleich, wie wenig Zeit ihnen zu Gebote &#x017F;tand und mit welchen<lb/>
Schwierigkeiten &#x017F;ie zu kämpfen hatten, und wird in &#x017F;einem<lb/>
Urteil nach&#x017F;ichtiger.</p><lb/>
          <p>Am 15. April. Wir brachen von der In&#x017F;el Panumana<lb/>
um 4 Uhr morgens auf, zwei Stunden vor Sonnenaufgang;<lb/>
der Himmel war großenteils bedeckt und durch dickes, über 40°<lb/>
hoch &#x017F;tehendes Gewölk fuhren Blitze. Wir wunderten uns,<lb/>
daß wir nicht donnern hörten; kam es daher, daß das Ge-<lb/>
witter &#x017F;o ausnehmend hoch &#x017F;tand? Es kam uns vor, als<lb/>
würden in Europa die elektri&#x017F;chen Schimmer ohne Donner,<lb/>
das Wetterleuchten, wie man es mit unbe&#x017F;timmtem Ausdruck<lb/>
nennt, in der Regel weit näher am Horizont ge&#x017F;ehen. Beim<lb/>
bedeckten Himmel, der die &#x017F;trahlende Wärme des Bodens zu-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[103/0111] Arimaſpen und den Hyperboreern erzählen. Man thäte den ſchlichten, zuweilen ein wenig rohen Miſſionären unrecht, wenn man glaubte, ſie ſelbſt haben dieſe übertriebenen Mären erfunden; ſie haben ſie vielmehr großenteils den Indianer- geſchichten entnommen. In den Miſſionen erzählt man gern, wie zur See, wie im Orient, wie überall, wo man ſich lang- weilt. Ein Miſſionär iſt ſchon nach Standesgebühr nicht zum Skeptizismus geneigt; er prägt ſich ein, was ihm die Ein- geborenen ſo oft vorgeſagt, und kommt er nach Europa in die civiliſierte Welt zurück, ſo findet er eine Entſchädigung für ſeine Beſchwerden in der Luſt, durch die Erzählung von Dingen, die er als Thatſachen aufgenommen, durch lebendige Schilderung des im Raume ſo weit Entrückten, die Leute in Verwunderung zu ſetzen. Ja, dieſe Cuentos de viageros y frailes werden immer unwahrſcheinlicher, je weiter man von den Wäldern am Orinoko weg den Küſten zu kommt, wo die Weißen wohnen. Läßt man in Cumana, Nueva Barce- lona und in anderen Seehäfen, die ſtarken Verkehr mit den Miſſionen haben, einigen Unglauben merken, ſo ſchließt man einem den Mund mit den wenigen Worten: „Die Patres haben es geſehen,“ aber weit über den großen Katarakten, „mas ariba de los Raudales“. Jetzt, da wir ein ſo ſelten beſuchtes, von denen, die es bereiſt, nur zum Teil beſchriebenes Land betreten, habe ich mehrere Gründe, meine Reiſebeſchreibung auch ferner in der Form eines Tagebuches fortzuſetzen. Der Leſer unterſcheidet dabei leichter, was ich ſelbſt beobachtet, und was ich nach den Ausſagen der Miſſionäre und Indianer berichte; er begleitet die Reiſenden bei ihren täglichen Beſchäftigungen; er ſieht zugleich, wie wenig Zeit ihnen zu Gebote ſtand und mit welchen Schwierigkeiten ſie zu kämpfen hatten, und wird in ſeinem Urteil nachſichtiger. Am 15. April. Wir brachen von der Inſel Panumana um 4 Uhr morgens auf, zwei Stunden vor Sonnenaufgang; der Himmel war großenteils bedeckt und durch dickes, über 40° hoch ſtehendes Gewölk fuhren Blitze. Wir wunderten uns, daß wir nicht donnern hörten; kam es daher, daß das Ge- witter ſo ausnehmend hoch ſtand? Es kam uns vor, als würden in Europa die elektriſchen Schimmer ohne Donner, das Wetterleuchten, wie man es mit unbeſtimmtem Ausdruck nennt, in der Regel weit näher am Horizont geſehen. Beim bedeckten Himmel, der die ſtrahlende Wärme des Bodens zu-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/111
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/111>, abgerufen am 19.04.2024.