Wir kamen sehr spät nach Maracay. Die Personen, an die wir Empfehlungen hatten, waren nicht zu Hause; kaum bemerkten die Leute unsere Verlegenheit, so erbot man sich von allen Seiten, uns aufzunehmen, unsere Instrumente unter- zubringen, unsere Maultiere zu versorgen. Es ist schon tausend- mal gesagt worden, aber der Reisende fühlt immer wieder das Bedürfnis, es zu wiederholen: die spanischen Kolonieen sind das wahre Land der Gastfreundschaft, auch noch an Orten, wo Gewerbfleiß und Handel Wohlstand und eine gewisse Bil- dung unter den Kolonisten verbreitet haben. Eine kanarische Familie nahm uns mit der liebenswürdigsten Herzlichkeit auf; man bereitete uns ein treffliches Mahl, man vermied sorgfältig alles, was uns irgendwie einen Zwang auflegen konnte. Der Hausherr, Don Alexandro Gonzales, war in Handelsgeschäften auf der Reise und seine junge Frau genoß seit kurzem der Mutterfreude. Sie war außer sich vor Vergnügen, als sie hörte, daß wir auf dem Rückweg vom Rio Negro an den Orinoko nach Angostura kommen würden, wo sich ihr Mann befand. Von uns soll er erfahren, daß ihm sein Erstling geboren worden. In diesen Ländern gelten, wie bei den Alten, wandernde Gäste für die sichersten Boten. Es gibt Postreiter, aber diese machen so weite Umwege, daß Privat- leute durch sie selten Briefe in die Llanos oder Savannen im Inneren gehen lassen. Als wir aufbrachen, trug man uns das Kind zu. Wir hatten es am Abend im Schlaf gesehen, am Morgen mußten wir es wachend sehen. Wir versprachen, es dem Vater Zug für Zug zu beschreiben; aber beim Anblick unserer Bücher und Instrumente wurde die junge Frau un- ruhig. Sie meinte, "auf einer langen Reise und bei so vielen anderweitigen Geschäften könnten wir leicht vergessen, was für Augen ihr Kind habe". Wie liebenswürdig ist solche Gastfreundschaft, wie köstlich der naive Ausdruck eines Ver- trauens, das ja auch ein Charakterzug früherer Menschenalter beim Morgenrot der Gesittung ist!
Auf dem Wege von Maracay nach der Hacienda de Cura hat man zuweilen einen Ausblick auf den See von Valencia. Von der Granitbergkette an der Küste läuft ein Ast südwärts in die Ebene hinaus; es ist dies das Vor- gebirge Portachuelo, durch welches das Thal beinahe ganz geschlossen würde, wenn nicht ein schmaler Paß zwischen dem Vorgebirge und dem Felsen der Cabrera hinliefe. Dieser Ort hat in den letzten Revolutionskriegen in Caracas eine traurige
Wir kamen ſehr ſpät nach Maracay. Die Perſonen, an die wir Empfehlungen hatten, waren nicht zu Hauſe; kaum bemerkten die Leute unſere Verlegenheit, ſo erbot man ſich von allen Seiten, uns aufzunehmen, unſere Inſtrumente unter- zubringen, unſere Maultiere zu verſorgen. Es iſt ſchon tauſend- mal geſagt worden, aber der Reiſende fühlt immer wieder das Bedürfnis, es zu wiederholen: die ſpaniſchen Kolonieen ſind das wahre Land der Gaſtfreundſchaft, auch noch an Orten, wo Gewerbfleiß und Handel Wohlſtand und eine gewiſſe Bil- dung unter den Koloniſten verbreitet haben. Eine kanariſche Familie nahm uns mit der liebenswürdigſten Herzlichkeit auf; man bereitete uns ein treffliches Mahl, man vermied ſorgfältig alles, was uns irgendwie einen Zwang auflegen konnte. Der Hausherr, Don Alexandro Gonzales, war in Handelsgeſchäften auf der Reiſe und ſeine junge Frau genoß ſeit kurzem der Mutterfreude. Sie war außer ſich vor Vergnügen, als ſie hörte, daß wir auf dem Rückweg vom Rio Negro an den Orinoko nach Angoſtura kommen würden, wo ſich ihr Mann befand. Von uns ſoll er erfahren, daß ihm ſein Erſtling geboren worden. In dieſen Ländern gelten, wie bei den Alten, wandernde Gäſte für die ſicherſten Boten. Es gibt Poſtreiter, aber dieſe machen ſo weite Umwege, daß Privat- leute durch ſie ſelten Briefe in die Llanos oder Savannen im Inneren gehen laſſen. Als wir aufbrachen, trug man uns das Kind zu. Wir hatten es am Abend im Schlaf geſehen, am Morgen mußten wir es wachend ſehen. Wir verſprachen, es dem Vater Zug für Zug zu beſchreiben; aber beim Anblick unſerer Bücher und Inſtrumente wurde die junge Frau un- ruhig. Sie meinte, „auf einer langen Reiſe und bei ſo vielen anderweitigen Geſchäften könnten wir leicht vergeſſen, was für Augen ihr Kind habe“. Wie liebenswürdig iſt ſolche Gaſtfreundſchaft, wie köſtlich der naive Ausdruck eines Ver- trauens, das ja auch ein Charakterzug früherer Menſchenalter beim Morgenrot der Geſittung iſt!
Auf dem Wege von Maracay nach der Hacienda de Cura hat man zuweilen einen Ausblick auf den See von Valencia. Von der Granitbergkette an der Küſte läuft ein Aſt ſüdwärts in die Ebene hinaus; es iſt dies das Vor- gebirge Portachuelo, durch welches das Thal beinahe ganz geſchloſſen würde, wenn nicht ein ſchmaler Paß zwiſchen dem Vorgebirge und dem Felſen der Cabrera hinliefe. Dieſer Ort hat in den letzten Revolutionskriegen in Caracas eine traurige
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Wir kamen ſehr ſpät nach Maracay. Die Perſonen, an
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bemerkten die Leute unſere Verlegenheit, ſo erbot man ſich
von allen Seiten, uns aufzunehmen, unſere Inſtrumente unter-
zubringen, unſere Maultiere zu verſorgen. Es iſt ſchon tauſend-
mal geſagt worden, aber der Reiſende fühlt immer wieder
das Bedürfnis, es zu wiederholen: die ſpaniſchen Kolonieen
ſind das wahre Land der Gaſtfreundſchaft, auch noch an Orten,
wo Gewerbfleiß und Handel Wohlſtand und eine gewiſſe Bil-
dung unter den Koloniſten verbreitet haben. Eine kanariſche
Familie nahm uns mit der liebenswürdigſten Herzlichkeit auf;
man bereitete uns ein treffliches Mahl, man vermied ſorgfältig
alles, was uns irgendwie einen Zwang auflegen konnte. Der
Hausherr, Don Alexandro Gonzales, war in Handelsgeſchäften
auf der Reiſe und ſeine junge Frau genoß ſeit kurzem der
Mutterfreude. Sie war außer ſich vor Vergnügen, als ſie
hörte, daß wir auf dem Rückweg vom Rio Negro an den
Orinoko nach Angoſtura kommen würden, wo ſich ihr Mann
befand. Von uns ſoll er erfahren, daß ihm ſein Erſtling
geboren worden. In dieſen Ländern gelten, wie bei den
Alten, wandernde Gäſte für die ſicherſten Boten. Es gibt
Poſtreiter, aber dieſe machen ſo weite Umwege, daß Privat-
leute durch ſie ſelten Briefe in die Llanos oder Savannen im
Inneren gehen laſſen. Als wir aufbrachen, trug man uns das
Kind zu. Wir hatten es am Abend im Schlaf geſehen, am
Morgen mußten wir es wachend ſehen. Wir verſprachen, es
dem Vater Zug für Zug zu beſchreiben; aber beim Anblick
unſerer Bücher und Inſtrumente wurde die junge Frau un-
ruhig. Sie meinte, „auf einer langen Reiſe und bei ſo vielen
anderweitigen Geſchäften könnten wir leicht vergeſſen, was
für Augen ihr Kind habe“. Wie liebenswürdig iſt ſolche
Gaſtfreundſchaft, wie köſtlich der naive Ausdruck eines Ver-
trauens, das ja auch ein Charakterzug früherer Menſchenalter
beim Morgenrot der Geſittung iſt!
Auf dem Wege von Maracay nach der Hacienda de
Cura hat man zuweilen einen Ausblick auf den See von
Valencia. Von der Granitbergkette an der Küſte läuft ein
Aſt ſüdwärts in die Ebene hinaus; es iſt dies das Vor-
gebirge Portachuelo, durch welches das Thal beinahe ganz
geſchloſſen würde, wenn nicht ein ſchmaler Paß zwiſchen dem
Vorgebirge und dem Felſen der Cabrera hinliefe. Dieſer Ort
hat in den letzten Revolutionskriegen in Caracas eine traurige
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/204>, abgerufen am 16.07.2024.
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