zu bleiben. Im südlichen und westlichen Teile der Stadt, zwischen dem großen Platz und der Schlucht des Caraguata waren die Wirkungen des Erdbebens etwas geringer. Hier blieb die Hauptkirche mit ihren ungeheuren Strebepfeilern stehen." 1
Bei der Angabe von 9000 bis 10000 Toten in Caracas sind die Unglücklichen nicht gerechnet, die, schwer verwundet, erst nach Monaten aus Mangel an Nahrung und Pflege zu Grunde gingen. Die Nacht vom Donnerstag zum Karfreitag bot ein Bild unsäglichen Jammers und Elends. Die dicke Staubwolke, welche über den Trümmern schwebte und wie ein Nebel die Luft verfinsterte, hatte sich zu Boden geschlagen. Kein Erdstoß war mehr zu spüren, es war die schönste, stillste Nacht. Der fast volle Mond beleuchtete die runden Gipfel der Silla, und am Himmel sah es so ganz anders aus als auf der mit Trümmern und Leichen bedeckten Erde. Man sah Mütter mit den Leichen ihrer Kinder in den Armen, die sie wieder zum Leben zu bringen hofften; Familien liefen jammernd durch die Stadt und suchten einen Bruder, einen Gatten, einen Freund, von denen man nichts wußte und die sich in der Volksmenge verloren haben mochten. Man drängte sich durch die Straßen, die nur noch an den Reihen von Schutthaufen kenntlich waren.
Alle Schrecken der großen Katastrophen von Lissabon, Messina, Lima und Riobamba wiederholten sich am Unglücks- tage des 26. März 1812. "Die unter den Trümmern be- grabenen Verwundeten riefen die Vorübergehenden laut um Hilfe an, und es wurden auch über 2000 hervorgezogen. Nie hat sich das Mitleid rührender, man kann sagen sinnreicher bestätigt als hier, wo es galt, zu den Unglücklichen zu dringen, die man jammern hörte. Es fehlte völlig an Werkzeugen zum Graben und Wegräumen des Schuttes; man mußte die noch Lebenden mit den Händen ausgraben. Man brachte die Ver- wundeten und die Kranken, die sich aus den Spitälern ge- rettet, am Ufer des Guayre unter, aber hier fanden sie kein Obdach als das Laub der Bäume. Betten, Leinwand zum Verbinden der Wunden, chirurgische Instrumente, alles Un- entbehrliche lag unter den Trümmern begraben. Es fehlte an allem, in den ersten Tagen sogar an Lebensmitteln, und
1Delpeche, Sur le tremblement de terre de Venezuela, en 1812 (Manuskript).
zu bleiben. Im ſüdlichen und weſtlichen Teile der Stadt, zwiſchen dem großen Platz und der Schlucht des Caraguata waren die Wirkungen des Erdbebens etwas geringer. Hier blieb die Hauptkirche mit ihren ungeheuren Strebepfeilern ſtehen.“ 1
Bei der Angabe von 9000 bis 10000 Toten in Caracas ſind die Unglücklichen nicht gerechnet, die, ſchwer verwundet, erſt nach Monaten aus Mangel an Nahrung und Pflege zu Grunde gingen. Die Nacht vom Donnerstag zum Karfreitag bot ein Bild unſäglichen Jammers und Elends. Die dicke Staubwolke, welche über den Trümmern ſchwebte und wie ein Nebel die Luft verfinſterte, hatte ſich zu Boden geſchlagen. Kein Erdſtoß war mehr zu ſpüren, es war die ſchönſte, ſtillſte Nacht. Der faſt volle Mond beleuchtete die runden Gipfel der Silla, und am Himmel ſah es ſo ganz anders aus als auf der mit Trümmern und Leichen bedeckten Erde. Man ſah Mütter mit den Leichen ihrer Kinder in den Armen, die ſie wieder zum Leben zu bringen hofften; Familien liefen jammernd durch die Stadt und ſuchten einen Bruder, einen Gatten, einen Freund, von denen man nichts wußte und die ſich in der Volksmenge verloren haben mochten. Man drängte ſich durch die Straßen, die nur noch an den Reihen von Schutthaufen kenntlich waren.
Alle Schrecken der großen Kataſtrophen von Liſſabon, Meſſina, Lima und Riobamba wiederholten ſich am Unglücks- tage des 26. März 1812. „Die unter den Trümmern be- grabenen Verwundeten riefen die Vorübergehenden laut um Hilfe an, und es wurden auch über 2000 hervorgezogen. Nie hat ſich das Mitleid rührender, man kann ſagen ſinnreicher beſtätigt als hier, wo es galt, zu den Unglücklichen zu dringen, die man jammern hörte. Es fehlte völlig an Werkzeugen zum Graben und Wegräumen des Schuttes; man mußte die noch Lebenden mit den Händen ausgraben. Man brachte die Ver- wundeten und die Kranken, die ſich aus den Spitälern ge- rettet, am Ufer des Guayre unter, aber hier fanden ſie kein Obdach als das Laub der Bäume. Betten, Leinwand zum Verbinden der Wunden, chirurgiſche Inſtrumente, alles Un- entbehrliche lag unter den Trümmern begraben. Es fehlte an allem, in den erſten Tagen ſogar an Lebensmitteln, und
1Delpeche, Sur le tremblement de terre de Venezuela, en 1812 (Manuſkript).
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[155/0163]
zu bleiben. Im ſüdlichen und weſtlichen Teile der Stadt,
zwiſchen dem großen Platz und der Schlucht des Caraguata
waren die Wirkungen des Erdbebens etwas geringer. Hier
blieb die Hauptkirche mit ihren ungeheuren Strebepfeilern
ſtehen.“ 1
Bei der Angabe von 9000 bis 10000 Toten in Caracas
ſind die Unglücklichen nicht gerechnet, die, ſchwer verwundet,
erſt nach Monaten aus Mangel an Nahrung und Pflege zu
Grunde gingen. Die Nacht vom Donnerstag zum Karfreitag
bot ein Bild unſäglichen Jammers und Elends. Die dicke
Staubwolke, welche über den Trümmern ſchwebte und wie
ein Nebel die Luft verfinſterte, hatte ſich zu Boden geſchlagen.
Kein Erdſtoß war mehr zu ſpüren, es war die ſchönſte, ſtillſte
Nacht. Der faſt volle Mond beleuchtete die runden Gipfel
der Silla, und am Himmel ſah es ſo ganz anders aus als
auf der mit Trümmern und Leichen bedeckten Erde. Man
ſah Mütter mit den Leichen ihrer Kinder in den Armen, die
ſie wieder zum Leben zu bringen hofften; Familien liefen
jammernd durch die Stadt und ſuchten einen Bruder, einen
Gatten, einen Freund, von denen man nichts wußte und die
ſich in der Volksmenge verloren haben mochten. Man drängte
ſich durch die Straßen, die nur noch an den Reihen von
Schutthaufen kenntlich waren.
Alle Schrecken der großen Kataſtrophen von Liſſabon,
Meſſina, Lima und Riobamba wiederholten ſich am Unglücks-
tage des 26. März 1812. „Die unter den Trümmern be-
grabenen Verwundeten riefen die Vorübergehenden laut um
Hilfe an, und es wurden auch über 2000 hervorgezogen. Nie
hat ſich das Mitleid rührender, man kann ſagen ſinnreicher
beſtätigt als hier, wo es galt, zu den Unglücklichen zu dringen,
die man jammern hörte. Es fehlte völlig an Werkzeugen zum
Graben und Wegräumen des Schuttes; man mußte die noch
Lebenden mit den Händen ausgraben. Man brachte die Ver-
wundeten und die Kranken, die ſich aus den Spitälern ge-
rettet, am Ufer des Guayre unter, aber hier fanden ſie kein
Obdach als das Laub der Bäume. Betten, Leinwand zum
Verbinden der Wunden, chirurgiſche Inſtrumente, alles Un-
entbehrliche lag unter den Trümmern begraben. Es fehlte
an allem, in den erſten Tagen ſogar an Lebensmitteln, und
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/163>, abgerufen am 16.07.2024.
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