bedeutend hält. Der unterworfene Indianer ist häufig so wenig ein Christ als der unabhängige Götzendiener; beide sind völlig vom augenblicklichen Bedürfnis in Anspruch ge- nommen, und bei beiden zeigt sich in gleichem Maße voll- kommene Gleichgültigkeit gegen christliche Vorstellungen und der geheime Hang, die Natur und ihre Kräfte göttlich zu verehren. Ein solcher Gottesdienst gehört dem Kindesalter der Völker an; er kennt noch keine Götzen und keine heiligen Orte außer Höhlen, Schluchten und Forsten.
Wenn die unabhängigen Indianer nördlich vom Orinoko und Apure, d. h. von den Schneebergen von Merida bis zum Vorgebirge Paria, seit einem Jahrhundert fast ganz ver- schwunden sind, so darf man daraus nicht schließen daß es jetzt in diesen Ländern weniger Eingeborene gibt, als zur Zeit des Bischofs von Chiapa, Bartholomäus Las Casas. In meinem Werke über Mexiko habe ich dargethan, wie sehr man irrt, wenn man die Ausrottung der Indianer oder auch nur die Abnahme ihrer Volkszahl in den spanischen Kolonieen als eine allgemeine Thatsache hinstellt. Die kupferfarbige Rasse ist auf beiden Festländern Amerikas noch über sechs Millionen stark, und obgleich unzählige Stämme und Sprachen ausgestorben sind oder sich verschmolzen haben, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß zwischen den Wendekreisen, in dem Teile der Neuen Welt, in den die Kultur erst seit Christoph Kolumbus eingedrungen ist, die Zahl der Eingeborenen be- deutend zugenommen hat. Zwei karibische Dörfer in den Missionen von Piritu oder am Carony zählen mehr Familien als vier oder fünf Völkerschaften am Orinoko. Die gesell- schaftlichen Zustände der unabhängig gebliebenen Kariben an den Quellen des Essequibo und südlich von den Bergen von Pacaraima thun zur Genüge dar, wie sehr auch bei diesem schönen Menschenschlage die Bevölkerung der Missionen die Masse der unabhängigen und verbündeten Kariben übersteigt. Uebrigens verhält es sich mit den Wilden im heißen Erd- strich ganz anders als mit denen am Missouri. Diese be- dürfen eines weiten Gebietes, weil sie nur von der Jagd leben; die Indianer in spanisch Guyana dagegen bauen Maniok und Bananen, und ein kleines Stück Land reicht zu ihrem Unterhalt hin. Sie scheuen nicht die Berührung mit den Weißen, wie die Wilden in den Vereinigten Staaten, die, nacheinander hinter die Alleghanies, hinter Ohio und Mississippi zurückgedrängt, sich den Lebensunterhalt in dem
bedeutend hält. Der unterworfene Indianer iſt häufig ſo wenig ein Chriſt als der unabhängige Götzendiener; beide ſind völlig vom augenblicklichen Bedürfnis in Anſpruch ge- nommen, und bei beiden zeigt ſich in gleichem Maße voll- kommene Gleichgültigkeit gegen chriſtliche Vorſtellungen und der geheime Hang, die Natur und ihre Kräfte göttlich zu verehren. Ein ſolcher Gottesdienſt gehört dem Kindesalter der Völker an; er kennt noch keine Götzen und keine heiligen Orte außer Höhlen, Schluchten und Forſten.
Wenn die unabhängigen Indianer nördlich vom Orinoko und Apure, d. h. von den Schneebergen von Merida bis zum Vorgebirge Paria, ſeit einem Jahrhundert faſt ganz ver- ſchwunden ſind, ſo darf man daraus nicht ſchließen daß es jetzt in dieſen Ländern weniger Eingeborene gibt, als zur Zeit des Biſchofs von Chiapa, Bartholomäus Las Caſas. In meinem Werke über Mexiko habe ich dargethan, wie ſehr man irrt, wenn man die Ausrottung der Indianer oder auch nur die Abnahme ihrer Volkszahl in den ſpaniſchen Kolonieen als eine allgemeine Thatſache hinſtellt. Die kupferfarbige Raſſe iſt auf beiden Feſtländern Amerikas noch über ſechs Millionen ſtark, und obgleich unzählige Stämme und Sprachen ausgeſtorben ſind oder ſich verſchmolzen haben, ſo unterliegt es doch keinem Zweifel, daß zwiſchen den Wendekreiſen, in dem Teile der Neuen Welt, in den die Kultur erſt ſeit Chriſtoph Kolumbus eingedrungen iſt, die Zahl der Eingeborenen be- deutend zugenommen hat. Zwei karibiſche Dörfer in den Miſſionen von Piritu oder am Carony zählen mehr Familien als vier oder fünf Völkerſchaften am Orinoko. Die geſell- ſchaftlichen Zuſtände der unabhängig gebliebenen Kariben an den Quellen des Eſſequibo und ſüdlich von den Bergen von Pacaraima thun zur Genüge dar, wie ſehr auch bei dieſem ſchönen Menſchenſchlage die Bevölkerung der Miſſionen die Maſſe der unabhängigen und verbündeten Kariben überſteigt. Uebrigens verhält es ſich mit den Wilden im heißen Erd- ſtrich ganz anders als mit denen am Miſſouri. Dieſe be- dürfen eines weiten Gebietes, weil ſie nur von der Jagd leben; die Indianer in ſpaniſch Guyana dagegen bauen Maniok und Bananen, und ein kleines Stück Land reicht zu ihrem Unterhalt hin. Sie ſcheuen nicht die Berührung mit den Weißen, wie die Wilden in den Vereinigten Staaten, die, nacheinander hinter die Alleghanies, hinter Ohio und Miſſiſſippi zurückgedrängt, ſich den Lebensunterhalt in dem
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bedeutend hält. Der unterworfene Indianer iſt häufig ſo
wenig ein Chriſt als der unabhängige Götzendiener; beide
ſind völlig vom augenblicklichen Bedürfnis in Anſpruch ge-
nommen, und bei beiden zeigt ſich in gleichem Maße voll-
kommene Gleichgültigkeit gegen chriſtliche Vorſtellungen und
der geheime Hang, die Natur und ihre Kräfte göttlich zu
verehren. Ein ſolcher Gottesdienſt gehört dem Kindesalter
der Völker an; er kennt noch keine Götzen und keine heiligen
Orte außer Höhlen, Schluchten und Forſten.
Wenn die unabhängigen Indianer nördlich vom Orinoko
und Apure, d. h. von den Schneebergen von Merida bis
zum Vorgebirge Paria, ſeit einem Jahrhundert faſt ganz ver-
ſchwunden ſind, ſo darf man daraus nicht ſchließen daß es
jetzt in dieſen Ländern weniger Eingeborene gibt, als zur
Zeit des Biſchofs von Chiapa, Bartholomäus Las Caſas.
In meinem Werke über Mexiko habe ich dargethan, wie ſehr
man irrt, wenn man die Ausrottung der Indianer oder auch
nur die Abnahme ihrer Volkszahl in den ſpaniſchen Kolonieen
als eine allgemeine Thatſache hinſtellt. Die kupferfarbige
Raſſe iſt auf beiden Feſtländern Amerikas noch über ſechs
Millionen ſtark, und obgleich unzählige Stämme und Sprachen
ausgeſtorben ſind oder ſich verſchmolzen haben, ſo unterliegt
es doch keinem Zweifel, daß zwiſchen den Wendekreiſen, in
dem Teile der Neuen Welt, in den die Kultur erſt ſeit Chriſtoph
Kolumbus eingedrungen iſt, die Zahl der Eingeborenen be-
deutend zugenommen hat. Zwei karibiſche Dörfer in den
Miſſionen von Piritu oder am Carony zählen mehr Familien
als vier oder fünf Völkerſchaften am Orinoko. Die geſell-
ſchaftlichen Zuſtände der unabhängig gebliebenen Kariben an
den Quellen des Eſſequibo und ſüdlich von den Bergen von
Pacaraima thun zur Genüge dar, wie ſehr auch bei dieſem
ſchönen Menſchenſchlage die Bevölkerung der Miſſionen die
Maſſe der unabhängigen und verbündeten Kariben überſteigt.
Uebrigens verhält es ſich mit den Wilden im heißen Erd-
ſtrich ganz anders als mit denen am Miſſouri. Dieſe be-
dürfen eines weiten Gebietes, weil ſie nur von der Jagd
leben; die Indianer in ſpaniſch Guyana dagegen bauen
Maniok und Bananen, und ein kleines Stück Land reicht zu
ihrem Unterhalt hin. Sie ſcheuen nicht die Berührung mit
den Weißen, wie die Wilden in den Vereinigten Staaten,
die, nacheinander hinter die Alleghanies, hinter Ohio und
Miſſiſſippi zurückgedrängt, ſich den Lebensunterhalt in dem
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/14>, abgerufen am 16.07.2024.
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