zone, die nur mittels der Ströme, die hindurchlaufen, zu- gänglich ist. Wenn die Eingeborenen in diesen Wäldern ganz von der Jagd lebten wie die am Missouri, so könnte man sagen, die drei Zonen, in welche wir das Gebiet von Vene- zuela zerfallen lassen, seien ein Bild der drei Zustände und Stufen der menschlichen Gesellschaft: in den Wäldern am Orinoko das rohe Jägerleben, auf den Savannen oder Llanos das Hirtenleben, in den hohen Thälern und am Fuße der Küstengebirge das Leben des Landbauers. Die Missionäre und eine Handvoll Soldaten besetzen hier, wie in ganz Amerika, vorgeschobene Posten an der brasilianischen Grenze. In dieser ersten Zone herrscht das Recht des Stärkeren und der Mißbrauch der Gewalt, der eine notwendige Folge davon ist. Die Einge- borenen liegen in beständigem blutigem Kriege miteinander und fressen nicht selten einander auf. Die Mönche suchen sich die Zwistigkeiten unter den Eingeborenen zu nutze zu machen und ihre kleinen Missionsdörfer zu vergrößern. Das Militär, das zum Schutz der Mönche daliegt, lebt im Zank mit ihnen. Ueberall ein trauriges Bild von Not und Elend. Wir werden bald Gelegenheit haben, diesen Zustand, den die Städter als Naturzustand preisen, näher kennen zu lernen. In der zwei- ten Region, auf den Ebenen und Weiden, ist die Nahrung einförmig, aber sehr reichlich. Die Menschen sind schon civilisierter, leben aber, abgesehen von ein paar weit aus- einander liegenden Städten, immer noch vereinzelt. Sieht man ihre zum Teil mit Häuten und Leder gedeckten Häuser, so meint man, sie haben sich auf den ungeheuren, bis zum Horizont fortstreichenden Grasebenen keineswegs niedergelassen, sondern kaum gelagert. Der Ackerbau, der allein die Grund- lagen der Gesellschaft befestigt und die Bande zwischen Mensch und Mensch enger knüpft, herrscht in der dritten Zone, im Küstenstriche, besonders in den warmen und gemäßigten Thä- lern der Gebirge am Meere.
Man könnte einwenden, auch in anderen Teilen des spanischen und portugiesischen Amerikas, überall, wo man die allmähliche Entwickelung der Kultur verfolgen kann, sehe man jene drei Stufenalter der menschlichen Gesellschaft nebenein- ander; es ist aber zu bemerken, und dies ist für alle, welche die politischen Zustände der verschiedenen Kolonieen genau kennen lernen wollen, von großem Belang, daß die drei Zonen, die Wälder, die Savannen und das bebaute Land, nicht überall im selben Verhältnis zu einander stehen, daß sie aber nirgends
zone, die nur mittels der Ströme, die hindurchlaufen, zu- gänglich iſt. Wenn die Eingeborenen in dieſen Wäldern ganz von der Jagd lebten wie die am Miſſouri, ſo könnte man ſagen, die drei Zonen, in welche wir das Gebiet von Vene- zuela zerfallen laſſen, ſeien ein Bild der drei Zuſtände und Stufen der menſchlichen Geſellſchaft: in den Wäldern am Orinoko das rohe Jägerleben, auf den Savannen oder Llanos das Hirtenleben, in den hohen Thälern und am Fuße der Küſtengebirge das Leben des Landbauers. Die Miſſionäre und eine Handvoll Soldaten beſetzen hier, wie in ganz Amerika, vorgeſchobene Poſten an der braſilianiſchen Grenze. In dieſer erſten Zone herrſcht das Recht des Stärkeren und der Mißbrauch der Gewalt, der eine notwendige Folge davon iſt. Die Einge- borenen liegen in beſtändigem blutigem Kriege miteinander und freſſen nicht ſelten einander auf. Die Mönche ſuchen ſich die Zwiſtigkeiten unter den Eingeborenen zu nutze zu machen und ihre kleinen Miſſionsdörfer zu vergrößern. Das Militär, das zum Schutz der Mönche daliegt, lebt im Zank mit ihnen. Ueberall ein trauriges Bild von Not und Elend. Wir werden bald Gelegenheit haben, dieſen Zuſtand, den die Städter als Naturzuſtand preiſen, näher kennen zu lernen. In der zwei- ten Region, auf den Ebenen und Weiden, iſt die Nahrung einförmig, aber ſehr reichlich. Die Menſchen ſind ſchon civiliſierter, leben aber, abgeſehen von ein paar weit aus- einander liegenden Städten, immer noch vereinzelt. Sieht man ihre zum Teil mit Häuten und Leder gedeckten Häuſer, ſo meint man, ſie haben ſich auf den ungeheuren, bis zum Horizont fortſtreichenden Grasebenen keineswegs niedergelaſſen, ſondern kaum gelagert. Der Ackerbau, der allein die Grund- lagen der Geſellſchaft befeſtigt und die Bande zwiſchen Menſch und Menſch enger knüpft, herrſcht in der dritten Zone, im Küſtenſtriche, beſonders in den warmen und gemäßigten Thä- lern der Gebirge am Meere.
Man könnte einwenden, auch in anderen Teilen des ſpaniſchen und portugieſiſchen Amerikas, überall, wo man die allmähliche Entwickelung der Kultur verfolgen kann, ſehe man jene drei Stufenalter der menſchlichen Geſellſchaft nebenein- ander; es iſt aber zu bemerken, und dies iſt für alle, welche die politiſchen Zuſtände der verſchiedenen Kolonieen genau kennen lernen wollen, von großem Belang, daß die drei Zonen, die Wälder, die Savannen und das bebaute Land, nicht überall im ſelben Verhältnis zu einander ſtehen, daß ſie aber nirgends
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zone, die nur mittels der Ströme, die hindurchlaufen, zu-
gänglich iſt. Wenn die Eingeborenen in dieſen Wäldern ganz
von der Jagd lebten wie die am Miſſouri, ſo könnte man
ſagen, die drei Zonen, in welche wir das Gebiet von Vene-
zuela zerfallen laſſen, ſeien ein Bild der drei Zuſtände und
Stufen der menſchlichen Geſellſchaft: in den Wäldern am
Orinoko das rohe Jägerleben, auf den Savannen oder Llanos
das Hirtenleben, in den hohen Thälern und am Fuße der
Küſtengebirge das Leben des Landbauers. Die Miſſionäre
und eine Handvoll Soldaten beſetzen hier, wie in ganz Amerika,
vorgeſchobene Poſten an der braſilianiſchen Grenze. In dieſer
erſten Zone herrſcht das Recht des Stärkeren und der Mißbrauch
der Gewalt, der eine notwendige Folge davon iſt. Die Einge-
borenen liegen in beſtändigem blutigem Kriege miteinander
und freſſen nicht ſelten einander auf. Die Mönche ſuchen ſich
die Zwiſtigkeiten unter den Eingeborenen zu nutze zu machen
und ihre kleinen Miſſionsdörfer zu vergrößern. Das Militär,
das zum Schutz der Mönche daliegt, lebt im Zank mit ihnen.
Ueberall ein trauriges Bild von Not und Elend. Wir werden
bald Gelegenheit haben, dieſen Zuſtand, den die Städter als
Naturzuſtand preiſen, näher kennen zu lernen. In der zwei-
ten Region, auf den Ebenen und Weiden, iſt die Nahrung
einförmig, aber ſehr reichlich. Die Menſchen ſind ſchon
civiliſierter, leben aber, abgeſehen von ein paar weit aus-
einander liegenden Städten, immer noch vereinzelt. Sieht
man ihre zum Teil mit Häuten und Leder gedeckten Häuſer,
ſo meint man, ſie haben ſich auf den ungeheuren, bis zum
Horizont fortſtreichenden Grasebenen keineswegs niedergelaſſen,
ſondern kaum gelagert. Der Ackerbau, der allein die Grund-
lagen der Geſellſchaft befeſtigt und die Bande zwiſchen Menſch
und Menſch enger knüpft, herrſcht in der dritten Zone, im
Küſtenſtriche, beſonders in den warmen und gemäßigten Thä-
lern der Gebirge am Meere.
Man könnte einwenden, auch in anderen Teilen des
ſpaniſchen und portugieſiſchen Amerikas, überall, wo man die
allmähliche Entwickelung der Kultur verfolgen kann, ſehe man
jene drei Stufenalter der menſchlichen Geſellſchaft nebenein-
ander; es iſt aber zu bemerken, und dies iſt für alle, welche die
politiſchen Zuſtände der verſchiedenen Kolonieen genau kennen
lernen wollen, von großem Belang, daß die drei Zonen, die
Wälder, die Savannen und das bebaute Land, nicht überall
im ſelben Verhältnis zu einander ſtehen, daß ſie aber nirgends
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/104>, abgerufen am 16.02.2025.
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