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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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den Volksstämmen der Neuen Welt; die letzteren kannten vor der
Ankunft der Europäer weder Getreide, noch Milch, noch Käse.

Eine Menge Kapellen, von den Spaniern ermitas ge-
nannt, liegen um die Stadt Laguna. Umgeben von immer-
grünen Bäumen auf kleinen Anhöhen, erhöhen diese Kapellen,
wie überall, den malerischen Reiz der Landschaft. Das Innere
der Stadt entspricht dem Aeußeren durchaus nicht. Die
Häuser sind solid gebaut, aber sehr alt, und die Straßen öde.
Der Botaniker hat übrigens nicht zu bedauern, daß die Häuser
so alt sind. Dächer und Mauern sind bedeckt mit Semper-
vivum canariense
und dem zierlichen Trichomanes, dessen
alle Reisende gedenken; die häufigen Nebel geben diesen Ge-
wächsen Unterhalt.

Anderson, der Naturforscher bei Kapitän Cooks dritter
Reise, gibt den europäischen Aerzten den Rat, ihre Kranken
nach Tenerifa zu schicken, keineswegs aus der Rücksicht, welche
manche Heilkünstler die entlegensten Bäder wählen läßt,
sondern wegen der ungemeinen Milde und Gleichmäßigkeit des
Klimas der Kanarien. Der Boden der Inseln steigt amphi-
theatralisch auf und zeigt, gleich Peru und Mexiko, wenn auch
in kleinerem Maßstab, alle Klimate, von afrikanischer Hitze bis
zum Froste der Hochalpen. Santa Cruz, der Hafen von
Orotava, die Stadt desselben Namens und Laguna sind vier
Orte, deren mittlere Temperaturen eine abnehmende Reihe dar-
stellen. Das südliche Europa bietet nicht dieselben Vorteile,
weil der Wechsel der Jahreszeiten sich noch zu stark fühlbar
macht. Tenerifa dagegen, gleichsam an der Pforte der Tropen
und doch nur wenige Tagereisen von Spanien, hat schon ein
gut Teil der Herrlichkeit aufzuweisen, mit der die Natur die
Länder zwischen den Wendekreisen ausgestattet. Im Pflanzen-
reich treten bereits mehrere der schönsten und großartigsten
Gestalten auf, die Bananen und die Palmen. Wer Sinn für
Naturschönheit hat, findet auf dieser köstlichen Insel noch kräf-
tigere Heilmittel als das Klima. Kein Ort der Welt scheint
mir geeigneter, die Schwermut zu bannen und einem schmerz-
lich ergriffenen Gemüte den Frieden wiederzugeben, als
Tenerifa und Madeira. Und solches wirkt nicht allein die
herrliche Lage und die reine Luft, sondern vor allem das
Nichtvorhandensein der Sklaverei, deren Anblick einen in
beiden Indien so tief empört, wie überall, wohin europäische
Kolonisten ihre sogenannte Aufklärung und ihre Industrie ge-
tragen haben.


den Volksſtämmen der Neuen Welt; die letzteren kannten vor der
Ankunft der Europäer weder Getreide, noch Milch, noch Käſe.

Eine Menge Kapellen, von den Spaniern ermitas ge-
nannt, liegen um die Stadt Laguna. Umgeben von immer-
grünen Bäumen auf kleinen Anhöhen, erhöhen dieſe Kapellen,
wie überall, den maleriſchen Reiz der Landſchaft. Das Innere
der Stadt entſpricht dem Aeußeren durchaus nicht. Die
Häuſer ſind ſolid gebaut, aber ſehr alt, und die Straßen öde.
Der Botaniker hat übrigens nicht zu bedauern, daß die Häuſer
ſo alt ſind. Dächer und Mauern ſind bedeckt mit Semper-
vivum canariense
und dem zierlichen Trichomanes, deſſen
alle Reiſende gedenken; die häufigen Nebel geben dieſen Ge-
wächſen Unterhalt.

Anderſon, der Naturforſcher bei Kapitän Cooks dritter
Reiſe, gibt den europäiſchen Aerzten den Rat, ihre Kranken
nach Tenerifa zu ſchicken, keineswegs aus der Rückſicht, welche
manche Heilkünſtler die entlegenſten Bäder wählen läßt,
ſondern wegen der ungemeinen Milde und Gleichmäßigkeit des
Klimas der Kanarien. Der Boden der Inſeln ſteigt amphi-
theatraliſch auf und zeigt, gleich Peru und Mexiko, wenn auch
in kleinerem Maßſtab, alle Klimate, von afrikaniſcher Hitze bis
zum Froſte der Hochalpen. Santa Cruz, der Hafen von
Orotava, die Stadt desſelben Namens und Laguna ſind vier
Orte, deren mittlere Temperaturen eine abnehmende Reihe dar-
ſtellen. Das ſüdliche Europa bietet nicht dieſelben Vorteile,
weil der Wechſel der Jahreszeiten ſich noch zu ſtark fühlbar
macht. Tenerifa dagegen, gleichſam an der Pforte der Tropen
und doch nur wenige Tagereiſen von Spanien, hat ſchon ein
gut Teil der Herrlichkeit aufzuweiſen, mit der die Natur die
Länder zwiſchen den Wendekreiſen ausgeſtattet. Im Pflanzen-
reich treten bereits mehrere der ſchönſten und großartigſten
Geſtalten auf, die Bananen und die Palmen. Wer Sinn für
Naturſchönheit hat, findet auf dieſer köſtlichen Inſel noch kräf-
tigere Heilmittel als das Klima. Kein Ort der Welt ſcheint
mir geeigneter, die Schwermut zu bannen und einem ſchmerz-
lich ergriffenen Gemüte den Frieden wiederzugeben, als
Tenerifa und Madeira. Und ſolches wirkt nicht allein die
herrliche Lage und die reine Luft, ſondern vor allem das
Nichtvorhandenſein der Sklaverei, deren Anblick einen in
beiden Indien ſo tief empört, wie überall, wohin europäiſche
Koloniſten ihre ſogenannte Aufklärung und ihre Induſtrie ge-
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[64/0080] den Volksſtämmen der Neuen Welt; die letzteren kannten vor der Ankunft der Europäer weder Getreide, noch Milch, noch Käſe. Eine Menge Kapellen, von den Spaniern ermitas ge- nannt, liegen um die Stadt Laguna. Umgeben von immer- grünen Bäumen auf kleinen Anhöhen, erhöhen dieſe Kapellen, wie überall, den maleriſchen Reiz der Landſchaft. Das Innere der Stadt entſpricht dem Aeußeren durchaus nicht. Die Häuſer ſind ſolid gebaut, aber ſehr alt, und die Straßen öde. Der Botaniker hat übrigens nicht zu bedauern, daß die Häuſer ſo alt ſind. Dächer und Mauern ſind bedeckt mit Semper- vivum canariense und dem zierlichen Trichomanes, deſſen alle Reiſende gedenken; die häufigen Nebel geben dieſen Ge- wächſen Unterhalt. Anderſon, der Naturforſcher bei Kapitän Cooks dritter Reiſe, gibt den europäiſchen Aerzten den Rat, ihre Kranken nach Tenerifa zu ſchicken, keineswegs aus der Rückſicht, welche manche Heilkünſtler die entlegenſten Bäder wählen läßt, ſondern wegen der ungemeinen Milde und Gleichmäßigkeit des Klimas der Kanarien. Der Boden der Inſeln ſteigt amphi- theatraliſch auf und zeigt, gleich Peru und Mexiko, wenn auch in kleinerem Maßſtab, alle Klimate, von afrikaniſcher Hitze bis zum Froſte der Hochalpen. Santa Cruz, der Hafen von Orotava, die Stadt desſelben Namens und Laguna ſind vier Orte, deren mittlere Temperaturen eine abnehmende Reihe dar- ſtellen. Das ſüdliche Europa bietet nicht dieſelben Vorteile, weil der Wechſel der Jahreszeiten ſich noch zu ſtark fühlbar macht. Tenerifa dagegen, gleichſam an der Pforte der Tropen und doch nur wenige Tagereiſen von Spanien, hat ſchon ein gut Teil der Herrlichkeit aufzuweiſen, mit der die Natur die Länder zwiſchen den Wendekreiſen ausgeſtattet. Im Pflanzen- reich treten bereits mehrere der ſchönſten und großartigſten Geſtalten auf, die Bananen und die Palmen. Wer Sinn für Naturſchönheit hat, findet auf dieſer köſtlichen Inſel noch kräf- tigere Heilmittel als das Klima. Kein Ort der Welt ſcheint mir geeigneter, die Schwermut zu bannen und einem ſchmerz- lich ergriffenen Gemüte den Frieden wiederzugeben, als Tenerifa und Madeira. Und ſolches wirkt nicht allein die herrliche Lage und die reine Luft, ſondern vor allem das Nichtvorhandenſein der Sklaverei, deren Anblick einen in beiden Indien ſo tief empört, wie überall, wohin europäiſche Koloniſten ihre ſogenannte Aufklärung und ihre Induſtrie ge- tragen haben.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/80>, abgerufen am 23.04.2024.