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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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Ueberraschung, diese unterirdische Wasserader sei die Quelle
des Rio Caripe, der wenige Meilen davon, nach seiner Ver-
einigung mit dem kleinen Rio de Santa Maria, für Pirogen
schiffbar wird. Am Ufer des unterirdischen Baches fanden
wir eine Menge Palmholz; es sind Ueberbleibsel der Stämme,
auf denen die Indianer zu den Vogelnestern an der Decke
der Höhle hinaufsteigen. Die von den Narben der alten Blatt-
stiele gebildeten Ringe dienen gleichsam als Sprossen einer
aufrecht stehenden Leiter.

Die Höhle von Caripe behält, genau gemessen, auf 472 m
dieselbe Richtung, dieselbe Breite und die anfängliche Höhe
von 20 bis 23 m. Ich kenne auf beiden Kontinenten keine
zweite Höhle von so gleichförmiger, regelmäßiger Gestalt. Wir
hatten viele Mühe, die Indianer zu bewegen, daß sie über das
vordere Stück hinausgingen, das sie allein jährlich zum Fett-
sammeln besuchen. Es brauchte das ganze Ansehen der Patres,
um sie bis zu der Stelle zu bringen, wo der Boden rasch
unter einem Winkel von 60° ansteigt und der Bach einen
kleinen unterirdischen Fall bildet. Diese von Nachtvögeln be-
wohnte Höhle ist für die Indianer ein schauerlich geheimnis-
voller Ort; sie glauben, tief hinten wohnen die Seelen ihrer
Vorfahren. Der Mensch, sagen sie, soll Scheu tragen vor
Orten, die weder von der Sonne, Zis, noch vom Monde,
Nuna, beschienen sind. Zu den Guacharos gehen, heißt so
viel, als zu den Vätern versammelt werden, sterben. Daher
nahmen auch die Zauberer, Piajes, und die Giftmischer,
Imorons, ihre nächtlichen Gaukeleien am Eingang der
Höhle vor, um den obersten der bösen Geister, Ivorokiamo,
zu beschwören. So gleichen sich unter allen Himmelsstrichen
die ältesten Mythen der Völker, vor allen solche, die sich auf
zwei die Welt regierende Kräfte, auf den Aufenthalt der Seelen
nach dem Tod, auf den Lohn der Gerechten und die Strafe
der Bösen beziehen. Die verschiedensten und darunter die
rohesten Sprachen haben gewisse Bilder miteinander gemein,
weil diese unmittelbar aus dem Wesen unseres Denk- und
Empfindungsvermögens fließen. Finsternis wird allerorten
mit der Vorstellung des Todes in Verbindung gebracht. Die
Höhle von Caripe ist der Tartarus der Griechen, und die
Guacharos, die unter kläglichem Geschrei über dem Wasser
flattern, mahnen an die stygischen Vögel.

Da wo der Bach den unterirdischen Fall bildet, stellt sich
das dem Höhleneingang gegenüberliegende, grün bewachsene

Ueberraſchung, dieſe unterirdiſche Waſſerader ſei die Quelle
des Rio Caripe, der wenige Meilen davon, nach ſeiner Ver-
einigung mit dem kleinen Rio de Santa Maria, für Pirogen
ſchiffbar wird. Am Ufer des unterirdiſchen Baches fanden
wir eine Menge Palmholz; es ſind Ueberbleibſel der Stämme,
auf denen die Indianer zu den Vogelneſtern an der Decke
der Höhle hinaufſteigen. Die von den Narben der alten Blatt-
ſtiele gebildeten Ringe dienen gleichſam als Sproſſen einer
aufrecht ſtehenden Leiter.

Die Höhle von Caripe behält, genau gemeſſen, auf 472 m
dieſelbe Richtung, dieſelbe Breite und die anfängliche Höhe
von 20 bis 23 m. Ich kenne auf beiden Kontinenten keine
zweite Höhle von ſo gleichförmiger, regelmäßiger Geſtalt. Wir
hatten viele Mühe, die Indianer zu bewegen, daß ſie über das
vordere Stück hinausgingen, das ſie allein jährlich zum Fett-
ſammeln beſuchen. Es brauchte das ganze Anſehen der Patres,
um ſie bis zu der Stelle zu bringen, wo der Boden raſch
unter einem Winkel von 60° anſteigt und der Bach einen
kleinen unterirdiſchen Fall bildet. Dieſe von Nachtvögeln be-
wohnte Höhle iſt für die Indianer ein ſchauerlich geheimnis-
voller Ort; ſie glauben, tief hinten wohnen die Seelen ihrer
Vorfahren. Der Menſch, ſagen ſie, ſoll Scheu tragen vor
Orten, die weder von der Sonne, Zis, noch vom Monde,
Nuna, beſchienen ſind. Zu den Guacharos gehen, heißt ſo
viel, als zu den Vätern verſammelt werden, ſterben. Daher
nahmen auch die Zauberer, Piajes, und die Giftmiſcher,
Imorons, ihre nächtlichen Gaukeleien am Eingang der
Höhle vor, um den oberſten der böſen Geiſter, Ivorokiamo,
zu beſchwören. So gleichen ſich unter allen Himmelsſtrichen
die älteſten Mythen der Völker, vor allen ſolche, die ſich auf
zwei die Welt regierende Kräfte, auf den Aufenthalt der Seelen
nach dem Tod, auf den Lohn der Gerechten und die Strafe
der Böſen beziehen. Die verſchiedenſten und darunter die
roheſten Sprachen haben gewiſſe Bilder miteinander gemein,
weil dieſe unmittelbar aus dem Weſen unſeres Denk- und
Empfindungsvermögens fließen. Finſternis wird allerorten
mit der Vorſtellung des Todes in Verbindung gebracht. Die
Höhle von Caripe iſt der Tartarus der Griechen, und die
Guacharos, die unter kläglichem Geſchrei über dem Waſſer
flattern, mahnen an die ſtygiſchen Vögel.

Da wo der Bach den unterirdiſchen Fall bildet, ſtellt ſich
das dem Höhleneingang gegenüberliegende, grün bewachſene

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[269/0285] Ueberraſchung, dieſe unterirdiſche Waſſerader ſei die Quelle des Rio Caripe, der wenige Meilen davon, nach ſeiner Ver- einigung mit dem kleinen Rio de Santa Maria, für Pirogen ſchiffbar wird. Am Ufer des unterirdiſchen Baches fanden wir eine Menge Palmholz; es ſind Ueberbleibſel der Stämme, auf denen die Indianer zu den Vogelneſtern an der Decke der Höhle hinaufſteigen. Die von den Narben der alten Blatt- ſtiele gebildeten Ringe dienen gleichſam als Sproſſen einer aufrecht ſtehenden Leiter. Die Höhle von Caripe behält, genau gemeſſen, auf 472 m dieſelbe Richtung, dieſelbe Breite und die anfängliche Höhe von 20 bis 23 m. Ich kenne auf beiden Kontinenten keine zweite Höhle von ſo gleichförmiger, regelmäßiger Geſtalt. Wir hatten viele Mühe, die Indianer zu bewegen, daß ſie über das vordere Stück hinausgingen, das ſie allein jährlich zum Fett- ſammeln beſuchen. Es brauchte das ganze Anſehen der Patres, um ſie bis zu der Stelle zu bringen, wo der Boden raſch unter einem Winkel von 60° anſteigt und der Bach einen kleinen unterirdiſchen Fall bildet. Dieſe von Nachtvögeln be- wohnte Höhle iſt für die Indianer ein ſchauerlich geheimnis- voller Ort; ſie glauben, tief hinten wohnen die Seelen ihrer Vorfahren. Der Menſch, ſagen ſie, ſoll Scheu tragen vor Orten, die weder von der Sonne, Zis, noch vom Monde, Nuna, beſchienen ſind. Zu den Guacharos gehen, heißt ſo viel, als zu den Vätern verſammelt werden, ſterben. Daher nahmen auch die Zauberer, Piajes, und die Giftmiſcher, Imorons, ihre nächtlichen Gaukeleien am Eingang der Höhle vor, um den oberſten der böſen Geiſter, Ivorokiamo, zu beſchwören. So gleichen ſich unter allen Himmelsſtrichen die älteſten Mythen der Völker, vor allen ſolche, die ſich auf zwei die Welt regierende Kräfte, auf den Aufenthalt der Seelen nach dem Tod, auf den Lohn der Gerechten und die Strafe der Böſen beziehen. Die verſchiedenſten und darunter die roheſten Sprachen haben gewiſſe Bilder miteinander gemein, weil dieſe unmittelbar aus dem Weſen unſeres Denk- und Empfindungsvermögens fließen. Finſternis wird allerorten mit der Vorſtellung des Todes in Verbindung gebracht. Die Höhle von Caripe iſt der Tartarus der Griechen, und die Guacharos, die unter kläglichem Geſchrei über dem Waſſer flattern, mahnen an die ſtygiſchen Vögel. Da wo der Bach den unterirdiſchen Fall bildet, ſtellt ſich das dem Höhleneingang gegenüberliegende, grün bewachſene

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/285>, abgerufen am 28.04.2024.