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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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auf der Insel Trinidad, der in gerader Linie von Buen Pastor
nur 64 km entfernt ist.

Nachdem wir eine Weile mit dem Verlangen gekämpft,
den Guarapiche hinunter in den Golfo triste zu fahren,
wandten wir uns gerade den Bergen zu. Die Thäler von
Guanaguana und Caripe sind durch eine Art Damm oder
Grat aus Kalkstein, der unter dem Namen Cuchilla de
Guanaguana
weit und breit berühmt ist, voneinander ge-
trennt. 1 Wir fanden den Uebergang beschwerlich, weil wir
damals noch nicht in den Kordilleren gereist waren, aber so
gefährlich, als man ihn in Cumana schildert, ist er keines-
wegs. Allerdings ist der Weg an mehreren Stellen nur 38
oder 40 cm breit; der Bergsattel, über den er wegläuft, ist
mit kurzem, sehr glattem Rasen bedeckt, die Abhänge zu beiden
Seiten sind ziemlich jäh, und wenn der Reisende fiele, könnte
er auf dem Grase 220 bis 260 m hinunterrollen. Indessen sind
die Bergseiten vielmehr nur starke Böschungen als eigentliche
Abgründe, und die Maultiere hierzulande haben einen so
sicheren Gang, daß man sich ihnen ruhig anvertrauen kann.
Ihr Benehmen ist ganz wie das der Saumtiere in der Schweiz
und in den Pyrenäen. Je wilder ein Land ist, desto fein-
fühliger und schärfer witternd wird der Instinkt der Haus-
tiere. Spüren die Maultiere eine Gefahr, so bleiben sie
stehen und wenden den Kopf hin und her, bewegen die Ohren
auf und ab; man sieht, sie überlegen, was zu thun sei. Sie
kommen langsam zum Entschluß, aber derselbe fällt immer
richtig aus, wenn er frei ist, das heißt, wenn ihn der Reisende
nicht unvorsichtigerweise stört oder übereilt. Wenn man in
den Anden sechs, sieben Monate auf entsetzlichen Wegen durch
die von den Bergwassern zerrissenen Gebirge zieht, da ent-
wickelt sich die Intelligenz der Reitpferde und Lasttiere auf
wahrhaft erstaunliche Weise. Man kann auch die Gebirgs-
bewohner sagen hören: "Ich gebe Ihnen nicht das Maultier,
das den bequemsten Schritt hat, sondern das vernünftigste,
la mas racional." Dieses Wort aus dem Munde des Volks,
die Frucht langer Erfahrung, widerlegt das System, das in
den Tieren nur belebte Maschinen sieht, wohl besser als alle
Beweisführung der spekulativen Philosophie.

Auf dem höchsten Punkt des Kammes oder der Cuchilla

1 Im ganzen spanischen Amerika bedeutet cuchilla, Messer-
klinge, einen Bergkamm mit sehr steilen Abhängen.
A. v. Humboldt, Reise. I. 17

auf der Inſel Trinidad, der in gerader Linie von Buen Paſtor
nur 64 km entfernt iſt.

Nachdem wir eine Weile mit dem Verlangen gekämpft,
den Guarapiche hinunter in den Golfo triste zu fahren,
wandten wir uns gerade den Bergen zu. Die Thäler von
Guanaguana und Caripe ſind durch eine Art Damm oder
Grat aus Kalkſtein, der unter dem Namen Cuchilla de
Guanaguana
weit und breit berühmt iſt, voneinander ge-
trennt. 1 Wir fanden den Uebergang beſchwerlich, weil wir
damals noch nicht in den Kordilleren gereiſt waren, aber ſo
gefährlich, als man ihn in Cumana ſchildert, iſt er keines-
wegs. Allerdings iſt der Weg an mehreren Stellen nur 38
oder 40 cm breit; der Bergſattel, über den er wegläuft, iſt
mit kurzem, ſehr glattem Raſen bedeckt, die Abhänge zu beiden
Seiten ſind ziemlich jäh, und wenn der Reiſende fiele, könnte
er auf dem Graſe 220 bis 260 m hinunterrollen. Indeſſen ſind
die Bergſeiten vielmehr nur ſtarke Böſchungen als eigentliche
Abgründe, und die Maultiere hierzulande haben einen ſo
ſicheren Gang, daß man ſich ihnen ruhig anvertrauen kann.
Ihr Benehmen iſt ganz wie das der Saumtiere in der Schweiz
und in den Pyrenäen. Je wilder ein Land iſt, deſto fein-
fühliger und ſchärfer witternd wird der Inſtinkt der Haus-
tiere. Spüren die Maultiere eine Gefahr, ſo bleiben ſie
ſtehen und wenden den Kopf hin und her, bewegen die Ohren
auf und ab; man ſieht, ſie überlegen, was zu thun ſei. Sie
kommen langſam zum Entſchluß, aber derſelbe fällt immer
richtig aus, wenn er frei iſt, das heißt, wenn ihn der Reiſende
nicht unvorſichtigerweiſe ſtört oder übereilt. Wenn man in
den Anden ſechs, ſieben Monate auf entſetzlichen Wegen durch
die von den Bergwaſſern zerriſſenen Gebirge zieht, da ent-
wickelt ſich die Intelligenz der Reitpferde und Laſttiere auf
wahrhaft erſtaunliche Weiſe. Man kann auch die Gebirgs-
bewohner ſagen hören: „Ich gebe Ihnen nicht das Maultier,
das den bequemſten Schritt hat, ſondern das vernünftigſte,
la mas racional.“ Dieſes Wort aus dem Munde des Volks,
die Frucht langer Erfahrung, widerlegt das Syſtem, das in
den Tieren nur belebte Maſchinen ſieht, wohl beſſer als alle
Beweisführung der ſpekulativen Philoſophie.

Auf dem höchſten Punkt des Kammes oder der Cuchilla

1 Im ganzen ſpaniſchen Amerika bedeutet cuchilla, Meſſer-
klinge, einen Bergkamm mit ſehr ſteilen Abhängen.
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[257/0273] auf der Inſel Trinidad, der in gerader Linie von Buen Paſtor nur 64 km entfernt iſt. Nachdem wir eine Weile mit dem Verlangen gekämpft, den Guarapiche hinunter in den Golfo triste zu fahren, wandten wir uns gerade den Bergen zu. Die Thäler von Guanaguana und Caripe ſind durch eine Art Damm oder Grat aus Kalkſtein, der unter dem Namen Cuchilla de Guanaguana weit und breit berühmt iſt, voneinander ge- trennt. 1 Wir fanden den Uebergang beſchwerlich, weil wir damals noch nicht in den Kordilleren gereiſt waren, aber ſo gefährlich, als man ihn in Cumana ſchildert, iſt er keines- wegs. Allerdings iſt der Weg an mehreren Stellen nur 38 oder 40 cm breit; der Bergſattel, über den er wegläuft, iſt mit kurzem, ſehr glattem Raſen bedeckt, die Abhänge zu beiden Seiten ſind ziemlich jäh, und wenn der Reiſende fiele, könnte er auf dem Graſe 220 bis 260 m hinunterrollen. Indeſſen ſind die Bergſeiten vielmehr nur ſtarke Böſchungen als eigentliche Abgründe, und die Maultiere hierzulande haben einen ſo ſicheren Gang, daß man ſich ihnen ruhig anvertrauen kann. Ihr Benehmen iſt ganz wie das der Saumtiere in der Schweiz und in den Pyrenäen. Je wilder ein Land iſt, deſto fein- fühliger und ſchärfer witternd wird der Inſtinkt der Haus- tiere. Spüren die Maultiere eine Gefahr, ſo bleiben ſie ſtehen und wenden den Kopf hin und her, bewegen die Ohren auf und ab; man ſieht, ſie überlegen, was zu thun ſei. Sie kommen langſam zum Entſchluß, aber derſelbe fällt immer richtig aus, wenn er frei iſt, das heißt, wenn ihn der Reiſende nicht unvorſichtigerweiſe ſtört oder übereilt. Wenn man in den Anden ſechs, ſieben Monate auf entſetzlichen Wegen durch die von den Bergwaſſern zerriſſenen Gebirge zieht, da ent- wickelt ſich die Intelligenz der Reitpferde und Laſttiere auf wahrhaft erſtaunliche Weiſe. Man kann auch die Gebirgs- bewohner ſagen hören: „Ich gebe Ihnen nicht das Maultier, das den bequemſten Schritt hat, ſondern das vernünftigſte, la mas racional.“ Dieſes Wort aus dem Munde des Volks, die Frucht langer Erfahrung, widerlegt das Syſtem, das in den Tieren nur belebte Maſchinen ſieht, wohl beſſer als alle Beweisführung der ſpekulativen Philoſophie. Auf dem höchſten Punkt des Kammes oder der Cuchilla 1 Im ganzen ſpaniſchen Amerika bedeutet cuchilla, Meſſer- klinge, einen Bergkamm mit ſehr ſteilen Abhängen. A. v. Humboldt, Reiſe. I. 17

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/273>, abgerufen am 25.11.2024.