Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

innern an die Ketten des Jura, und die einzige Ebene, die
sich darin findet, ist das Thal von Cumanacoa. Es ist, als
sähe man in einen Trichter hinunter, auf dessen Boden unter
zerstreuten Baumgruppen das indianische Dorf Aricagua er-
scheint. Gegen Nord hob sich eine schmale Landzunge, die
Halbinsel Araya, braun vom Meere ab, das, von den ersten
Sonnenstrahlen beleuchtet, ein glänzendes Licht zurückwarf.
Jenseits der Halbinsel begrenzte den Horizont das Vorgebirge
Macanao, dessen schwarzes Gestein gleich einem ungeheuren
Bollwerk aus dem Wasser aufsteigt.

Der Hof auf dem Cocollar am Fuße des Turimiquiri
liegt unter 10° 9' 32" der Breite. Die Inklination der
Magnetnadel fand ich gleich 42° 10'. Die Nadel schwang
220mal in zehn Zeitminuten. Die im Kalk liegenden Braun-
eisensteinmassen mögen die Intensität der magnetischen Kraft
um ein weniges steigern.

Am 14. September gingen wir vom Cocollar zur Mission
San Antonio hinunter. Der Weg führt anfangs über Sa-
vannen, die mit großen Kalksteinblöcken übersät sind, und dann
betritt man dichten Wald. Nachdem man zwei sehr steile
Berggräte überstiegen, hat man ein schönes Thal vor sich, das,
22,5 km lang, fast durchaus von Ost nach West streicht. In
diesem Thale liegen die Missionen San Antonio und Guana-
guana. Erstere ist berühmt wegen einer kleinen Kirche aus
Backsteinen, in erträglichem Stil, mit zwei Türmen und dorischen
Säulen. Sie gilt in der Umgegend für ein Wunder. Der
Guardian der Kapuziner wurde mit diesem Kirchenbau in nicht
ganz zwei Sommern fertig, obgleich er nur Indianer aus
seinem Dorfe dabei verwendet hatte. Die Säulenkapitäle,
die Gesimse und ein mit Sonnen und Arabesken gezierter
Fries wurden aus mit Ziegelmehl vermischtem Thon model-
liert. Wundert man sich, an der Grenze Lapplands Kirchen
im reinsten griechischen Stil 1 anzutreffen, so überraschen einen
dergleichen erste Kunstversuche noch mehr in einem Erdstrich,
wo noch alles den Stempel menschlicher Urzustände trägt und
von den Europäern erst seit etwa vierzig Jahren der Grund
zukünftiger Kultur gelegt wurde. Der Statthalter der Provinz
mißbilligte es, daß in Missionen mit solchem Luxus gebaut
werde, und zum großen Leidwesen der Mönche wurde die
Kirche nicht ausgebaut. Die Indianer von San Antonio sind

1 In Skeleftar bei Torneo. S. Buch, Reise in Norwegen.

innern an die Ketten des Jura, und die einzige Ebene, die
ſich darin findet, iſt das Thal von Cumanacoa. Es iſt, als
ſähe man in einen Trichter hinunter, auf deſſen Boden unter
zerſtreuten Baumgruppen das indianiſche Dorf Aricagua er-
ſcheint. Gegen Nord hob ſich eine ſchmale Landzunge, die
Halbinſel Araya, braun vom Meere ab, das, von den erſten
Sonnenſtrahlen beleuchtet, ein glänzendes Licht zurückwarf.
Jenſeits der Halbinſel begrenzte den Horizont das Vorgebirge
Macanao, deſſen ſchwarzes Geſtein gleich einem ungeheuren
Bollwerk aus dem Waſſer aufſteigt.

Der Hof auf dem Cocollar am Fuße des Turimiquiri
liegt unter 10° 9′ 32″ der Breite. Die Inklination der
Magnetnadel fand ich gleich 42° 10′. Die Nadel ſchwang
220mal in zehn Zeitminuten. Die im Kalk liegenden Braun-
eiſenſteinmaſſen mögen die Intenſität der magnetiſchen Kraft
um ein weniges ſteigern.

Am 14. September gingen wir vom Cocollar zur Miſſion
San Antonio hinunter. Der Weg führt anfangs über Sa-
vannen, die mit großen Kalkſteinblöcken überſät ſind, und dann
betritt man dichten Wald. Nachdem man zwei ſehr ſteile
Berggräte überſtiegen, hat man ein ſchönes Thal vor ſich, das,
22,5 km lang, faſt durchaus von Oſt nach Weſt ſtreicht. In
dieſem Thale liegen die Miſſionen San Antonio und Guana-
guana. Erſtere iſt berühmt wegen einer kleinen Kirche aus
Backſteinen, in erträglichem Stil, mit zwei Türmen und doriſchen
Säulen. Sie gilt in der Umgegend für ein Wunder. Der
Guardian der Kapuziner wurde mit dieſem Kirchenbau in nicht
ganz zwei Sommern fertig, obgleich er nur Indianer aus
ſeinem Dorfe dabei verwendet hatte. Die Säulenkapitäle,
die Geſimſe und ein mit Sonnen und Arabesken gezierter
Fries wurden aus mit Ziegelmehl vermiſchtem Thon model-
liert. Wundert man ſich, an der Grenze Lapplands Kirchen
im reinſten griechiſchen Stil 1 anzutreffen, ſo überraſchen einen
dergleichen erſte Kunſtverſuche noch mehr in einem Erdſtrich,
wo noch alles den Stempel menſchlicher Urzuſtände trägt und
von den Europäern erſt ſeit etwa vierzig Jahren der Grund
zukünftiger Kultur gelegt wurde. Der Statthalter der Provinz
mißbilligte es, daß in Miſſionen mit ſolchem Luxus gebaut
werde, und zum großen Leidweſen der Mönche wurde die
Kirche nicht ausgebaut. Die Indianer von San Antonio ſind

1 In Skeleftar bei Torneo. S. Buch, Reiſe in Norwegen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0269" n="253"/>
innern an die Ketten des Jura, und die einzige Ebene, die<lb/>
&#x017F;ich darin findet, i&#x017F;t das Thal von Cumanacoa. Es i&#x017F;t, als<lb/>
&#x017F;ähe man in einen Trichter hinunter, auf de&#x017F;&#x017F;en Boden unter<lb/>
zer&#x017F;treuten Baumgruppen das indiani&#x017F;che Dorf Aricagua er-<lb/>
&#x017F;cheint. Gegen Nord hob &#x017F;ich eine &#x017F;chmale Landzunge, die<lb/>
Halbin&#x017F;el Araya, braun vom Meere ab, das, von den er&#x017F;ten<lb/>
Sonnen&#x017F;trahlen beleuchtet, ein glänzendes Licht zurückwarf.<lb/>
Jen&#x017F;eits der Halbin&#x017F;el begrenzte den Horizont das Vorgebirge<lb/>
Macanao, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chwarzes Ge&#x017F;tein gleich einem ungeheuren<lb/>
Bollwerk aus dem Wa&#x017F;&#x017F;er auf&#x017F;teigt.</p><lb/>
          <p>Der Hof auf dem Cocollar am Fuße des Turimiquiri<lb/>
liegt unter 10° 9&#x2032; 32&#x2033; der Breite. Die Inklination der<lb/>
Magnetnadel fand ich gleich 42° 10&#x2032;. Die Nadel &#x017F;chwang<lb/>
220mal in zehn Zeitminuten. Die im Kalk liegenden Braun-<lb/>
ei&#x017F;en&#x017F;teinma&#x017F;&#x017F;en mögen die Inten&#x017F;ität der magneti&#x017F;chen Kraft<lb/>
um ein weniges &#x017F;teigern.</p><lb/>
          <p>Am 14. September gingen wir vom Cocollar zur Mi&#x017F;&#x017F;ion<lb/>
San Antonio hinunter. Der Weg führt anfangs über Sa-<lb/>
vannen, die mit großen Kalk&#x017F;teinblöcken über&#x017F;ät &#x017F;ind, und dann<lb/>
betritt man dichten Wald. Nachdem man zwei &#x017F;ehr &#x017F;teile<lb/>
Berggräte über&#x017F;tiegen, hat man ein &#x017F;chönes Thal vor &#x017F;ich, das,<lb/>
22,5 <hi rendition="#aq">km</hi> lang, fa&#x017F;t durchaus von O&#x017F;t nach We&#x017F;t &#x017F;treicht. In<lb/>
die&#x017F;em Thale liegen die Mi&#x017F;&#x017F;ionen San Antonio und Guana-<lb/>
guana. Er&#x017F;tere i&#x017F;t berühmt wegen einer kleinen Kirche aus<lb/>
Back&#x017F;teinen, in erträglichem Stil, mit zwei Türmen und dori&#x017F;chen<lb/>
Säulen. Sie gilt in der Umgegend für ein Wunder. Der<lb/>
Guardian der Kapuziner wurde mit die&#x017F;em Kirchenbau in nicht<lb/>
ganz zwei Sommern fertig, obgleich er nur Indianer aus<lb/>
&#x017F;einem Dorfe dabei verwendet hatte. Die Säulenkapitäle,<lb/>
die Ge&#x017F;im&#x017F;e und ein mit Sonnen und Arabesken gezierter<lb/>
Fries wurden aus mit Ziegelmehl vermi&#x017F;chtem Thon model-<lb/>
liert. Wundert man &#x017F;ich, an der Grenze Lapplands Kirchen<lb/>
im rein&#x017F;ten griechi&#x017F;chen Stil <note place="foot" n="1">In Skeleftar bei Torneo. S. <hi rendition="#g">Buch</hi>, Rei&#x017F;e in Norwegen.</note> anzutreffen, &#x017F;o überra&#x017F;chen einen<lb/>
dergleichen er&#x017F;te Kun&#x017F;tver&#x017F;uche noch mehr in einem Erd&#x017F;trich,<lb/>
wo noch alles den Stempel men&#x017F;chlicher Urzu&#x017F;tände trägt und<lb/>
von den Europäern er&#x017F;t &#x017F;eit etwa vierzig Jahren der Grund<lb/>
zukünftiger Kultur gelegt wurde. Der Statthalter der Provinz<lb/>
mißbilligte es, daß in Mi&#x017F;&#x017F;ionen mit &#x017F;olchem Luxus gebaut<lb/>
werde, und zum großen Leidwe&#x017F;en der Mönche wurde die<lb/>
Kirche nicht ausgebaut. Die Indianer von San Antonio &#x017F;ind<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0269] innern an die Ketten des Jura, und die einzige Ebene, die ſich darin findet, iſt das Thal von Cumanacoa. Es iſt, als ſähe man in einen Trichter hinunter, auf deſſen Boden unter zerſtreuten Baumgruppen das indianiſche Dorf Aricagua er- ſcheint. Gegen Nord hob ſich eine ſchmale Landzunge, die Halbinſel Araya, braun vom Meere ab, das, von den erſten Sonnenſtrahlen beleuchtet, ein glänzendes Licht zurückwarf. Jenſeits der Halbinſel begrenzte den Horizont das Vorgebirge Macanao, deſſen ſchwarzes Geſtein gleich einem ungeheuren Bollwerk aus dem Waſſer aufſteigt. Der Hof auf dem Cocollar am Fuße des Turimiquiri liegt unter 10° 9′ 32″ der Breite. Die Inklination der Magnetnadel fand ich gleich 42° 10′. Die Nadel ſchwang 220mal in zehn Zeitminuten. Die im Kalk liegenden Braun- eiſenſteinmaſſen mögen die Intenſität der magnetiſchen Kraft um ein weniges ſteigern. Am 14. September gingen wir vom Cocollar zur Miſſion San Antonio hinunter. Der Weg führt anfangs über Sa- vannen, die mit großen Kalkſteinblöcken überſät ſind, und dann betritt man dichten Wald. Nachdem man zwei ſehr ſteile Berggräte überſtiegen, hat man ein ſchönes Thal vor ſich, das, 22,5 km lang, faſt durchaus von Oſt nach Weſt ſtreicht. In dieſem Thale liegen die Miſſionen San Antonio und Guana- guana. Erſtere iſt berühmt wegen einer kleinen Kirche aus Backſteinen, in erträglichem Stil, mit zwei Türmen und doriſchen Säulen. Sie gilt in der Umgegend für ein Wunder. Der Guardian der Kapuziner wurde mit dieſem Kirchenbau in nicht ganz zwei Sommern fertig, obgleich er nur Indianer aus ſeinem Dorfe dabei verwendet hatte. Die Säulenkapitäle, die Geſimſe und ein mit Sonnen und Arabesken gezierter Fries wurden aus mit Ziegelmehl vermiſchtem Thon model- liert. Wundert man ſich, an der Grenze Lapplands Kirchen im reinſten griechiſchen Stil 1 anzutreffen, ſo überraſchen einen dergleichen erſte Kunſtverſuche noch mehr in einem Erdſtrich, wo noch alles den Stempel menſchlicher Urzuſtände trägt und von den Europäern erſt ſeit etwa vierzig Jahren der Grund zukünftiger Kultur gelegt wurde. Der Statthalter der Provinz mißbilligte es, daß in Miſſionen mit ſolchem Luxus gebaut werde, und zum großen Leidweſen der Mönche wurde die Kirche nicht ausgebaut. Die Indianer von San Antonio ſind 1 In Skeleftar bei Torneo. S. Buch, Reiſe in Norwegen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/269
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/269>, abgerufen am 27.04.2024.