Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.die Geistesfähigkeiten nicht so rasch entwickeln als unter einem Diese Umstände, die alle Aufmerksamkeit verdienen, geben Dieselben Ursachen, deren mächtiger Einfluß uns weiter- die Geiſtesfähigkeiten nicht ſo raſch entwickeln als unter einem Dieſe Umſtände, die alle Aufmerkſamkeit verdienen, geben Dieſelben Urſachen, deren mächtiger Einfluß uns weiter- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0234" n="218"/> die Geiſtesfähigkeiten nicht ſo raſch entwickeln als unter einem<lb/> ſtrengen Himmel, in der Region der Getreidearten, wo unſer<lb/> Geſchlecht in ewigem Kampfe mit den Elementen liegt. Wirft<lb/> man einen Blick auf die von ackerbautreibenden Völkern be-<lb/> wohnten Länder, ſo ſieht man, daß die bebauten Grundſtücke<lb/> durch Wald voneinander getrennt bleiben oder unmittelbar<lb/> aneinander ſtoßen, und daß ſolches nicht nur von der Höhe<lb/> der Bevölkerung, ſondern auch von der Wahl der Nahrungs-<lb/> gewächſe bedingt wird. In Europa ſchätzen wir die Zahl der<lb/> Einwohner nach der Ausdehnung des urbaren Landes; unter<lb/> den Tropen dagegen, im heißeſten und feuchteſten Striche von<lb/> Südamerika, ſcheinen ſehr ſtark bevölkerte Provinzen beinahe<lb/> wüſte zu liegen, weil der Menſch zu ſeinem Lebensunterhalt<lb/> nur wenige Morgen bebaut.</p><lb/> <p>Dieſe Umſtände, die alle Aufmerkſamkeit verdienen, geben<lb/> ſowohl der phyſiſchen Geſtaltung des Landes als dem Charakter<lb/> der Bewohner ein eigenes Gepräge; beide erhalten dadurch in<lb/> ihrem ganzen Weſen etwas Wildes, Rohes, wie es zu einer<lb/> Natur paßt, deren urſprüngliche Phyſiognomie durch die Kunſt<lb/> noch nicht verwiſcht iſt. Ohne Nachbarn, faſt ohne allen Ver-<lb/> kehr mit Menſchen, erſcheint jede Anſiedlerfamilie wie ein<lb/> vereinzelter Volksſtamm. Dieſe Vereinzelung hemmt den Fort-<lb/> ſchritt der Kultur, die ſich nur in dem Maße entwickeln kann,<lb/> als der Menſchenverein zahlreicher wird und die Bande zwiſchen<lb/> den einzelnen ſich feſter knüpfen und vervielfältigen; die Ein-<lb/> ſamkeit entwickelt aber auch und ſtärkt im Menſchen das Ge-<lb/> fühl der Unabhängigkeit und Freiheit; ſie nährt jenen Stolz,<lb/> der von jeher die Völker von kaſtilianiſchem Blute ausge-<lb/> zeichnet hat.</p><lb/> <p>Dieſelben Urſachen, deren mächtiger Einfluß uns weiter-<lb/> hin noch oft beſchäftigen wird, haben zur Folge, daß dem<lb/> Boden, ſelbſt in den am ſtärkſten bevölkerten Ländern des<lb/> tropiſchen Amerika, der Anſtrich von Wildheit erhalten bleibt,<lb/> der in gemäßigten Klimaten ſich durch den Getreidebau ver-<lb/> liert. Unter den Tropen nehmen die ackerbauenden Völker<lb/> weniger Raum ein; die Herrſchaft des Menſchen reicht nicht<lb/> ſo weit; er tritt nicht als unumſchränkter Gebieter auf, der<lb/> die Bodenoberfläche nach Gefallen modelt, ſondern wie ein<lb/> flüchtiger Gaſt, der in Ruhe des Segens der Natur genießt.<lb/> In der Umgegend der volkreichſten Städte ſtarrt der Boden<lb/> noch immer von Wäldern oder iſt mit einem dichten Pflanzen-<lb/> filz überzogen, den niemals eine Pflugſchar zerriſſen hat. Die<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [218/0234]
die Geiſtesfähigkeiten nicht ſo raſch entwickeln als unter einem
ſtrengen Himmel, in der Region der Getreidearten, wo unſer
Geſchlecht in ewigem Kampfe mit den Elementen liegt. Wirft
man einen Blick auf die von ackerbautreibenden Völkern be-
wohnten Länder, ſo ſieht man, daß die bebauten Grundſtücke
durch Wald voneinander getrennt bleiben oder unmittelbar
aneinander ſtoßen, und daß ſolches nicht nur von der Höhe
der Bevölkerung, ſondern auch von der Wahl der Nahrungs-
gewächſe bedingt wird. In Europa ſchätzen wir die Zahl der
Einwohner nach der Ausdehnung des urbaren Landes; unter
den Tropen dagegen, im heißeſten und feuchteſten Striche von
Südamerika, ſcheinen ſehr ſtark bevölkerte Provinzen beinahe
wüſte zu liegen, weil der Menſch zu ſeinem Lebensunterhalt
nur wenige Morgen bebaut.
Dieſe Umſtände, die alle Aufmerkſamkeit verdienen, geben
ſowohl der phyſiſchen Geſtaltung des Landes als dem Charakter
der Bewohner ein eigenes Gepräge; beide erhalten dadurch in
ihrem ganzen Weſen etwas Wildes, Rohes, wie es zu einer
Natur paßt, deren urſprüngliche Phyſiognomie durch die Kunſt
noch nicht verwiſcht iſt. Ohne Nachbarn, faſt ohne allen Ver-
kehr mit Menſchen, erſcheint jede Anſiedlerfamilie wie ein
vereinzelter Volksſtamm. Dieſe Vereinzelung hemmt den Fort-
ſchritt der Kultur, die ſich nur in dem Maße entwickeln kann,
als der Menſchenverein zahlreicher wird und die Bande zwiſchen
den einzelnen ſich feſter knüpfen und vervielfältigen; die Ein-
ſamkeit entwickelt aber auch und ſtärkt im Menſchen das Ge-
fühl der Unabhängigkeit und Freiheit; ſie nährt jenen Stolz,
der von jeher die Völker von kaſtilianiſchem Blute ausge-
zeichnet hat.
Dieſelben Urſachen, deren mächtiger Einfluß uns weiter-
hin noch oft beſchäftigen wird, haben zur Folge, daß dem
Boden, ſelbſt in den am ſtärkſten bevölkerten Ländern des
tropiſchen Amerika, der Anſtrich von Wildheit erhalten bleibt,
der in gemäßigten Klimaten ſich durch den Getreidebau ver-
liert. Unter den Tropen nehmen die ackerbauenden Völker
weniger Raum ein; die Herrſchaft des Menſchen reicht nicht
ſo weit; er tritt nicht als unumſchränkter Gebieter auf, der
die Bodenoberfläche nach Gefallen modelt, ſondern wie ein
flüchtiger Gaſt, der in Ruhe des Segens der Natur genießt.
In der Umgegend der volkreichſten Städte ſtarrt der Boden
noch immer von Wäldern oder iſt mit einem dichten Pflanzen-
filz überzogen, den niemals eine Pflugſchar zerriſſen hat. Die
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