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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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baustaaten an den großen Welthändeln immer nur passiven
Anteil genommen.

Die Geschichte der neuen Kolonieen hat nur zwei merk-
würdige Ereignisse aufzuweisen, ihre Gründung und ihre
Trennung vom Mutterlande. Das erstere ist reich an Er-
innerungen, die sich wesentlich an die von den Kolonisten
bewohnten Länder knüpfen; aber statt Bilder des friedlichen
Fortschrittes des Gewerbfleißes und der Entwickelung der
Gesetzgebung in den Kolonieen vorzuführen, erzählt diese Ge-
schichte nur von verübtem Unrecht und von Gewaltthaten.
Welchen Reiz können jene außerordentlichen Zeiten haben,
wo die Spanier unter Karls V. Regierung mehr Mut als
sittliche Kraft entwickelten, und die ritterliche Ehre, wie der
kriegerische Ruhm durch Fanatismus und Golddurst befleckt
wurden? Die Kolonisten sind von sanfter Gemütsart, sie
sind durch ihre Lage den Nationalvorurteilen enthoben, und
so wissen sie die Thaten bei der Eroberung nach ihrem wahren
Werte zu schätzen. Die Männer, die sich damals ausge-
zeichnet, sind Europäer, sind Krieger des Mutterlandes. In
den Augen des Kolonisten sind sie Fremde, denn drei Jahr-
hunderte haben hingereicht, die Bande des Blutes aufzulösen.
Unter den "Konquistadoren" waren sicher rechtschaffene und
edle Männer, aber sie verschwinden in der Masse und konnten
der allgemeinen Verdammnis nicht entgehen.

Ich glaube hiermit die hauptsächlichsten Ursachen ange-
geben zu haben, aus denen in den heutigen Kolonieen die
Nationalerinnerungen sich verlieren, ohne daß andere, auf
das nunmehr bewohnte Land sich beziehende würdig an ihre
Stelle träten. Dieser Umstand, wir können es nicht genug
wiederholen, äußert einen bedeutenden Einfluß auf die ganze
Lage der Ansiedler. In der stürmevollen Zeit einer staat-
lichen Wiedergeburt sehen sie sich auf sich selbst gestellt, und
es ergeht ihnen wie einem Volke, das es verschmähte, seine
Geschichtsbücher zu befragen und aus den Unfällen vergan-
gener Jahrhunderte Lehren der Weisheit zu schöpfen.



bauſtaaten an den großen Welthändeln immer nur paſſiven
Anteil genommen.

Die Geſchichte der neuen Kolonieen hat nur zwei merk-
würdige Ereigniſſe aufzuweiſen, ihre Gründung und ihre
Trennung vom Mutterlande. Das erſtere iſt reich an Er-
innerungen, die ſich weſentlich an die von den Koloniſten
bewohnten Länder knüpfen; aber ſtatt Bilder des friedlichen
Fortſchrittes des Gewerbfleißes und der Entwickelung der
Geſetzgebung in den Kolonieen vorzuführen, erzählt dieſe Ge-
ſchichte nur von verübtem Unrecht und von Gewaltthaten.
Welchen Reiz können jene außerordentlichen Zeiten haben,
wo die Spanier unter Karls V. Regierung mehr Mut als
ſittliche Kraft entwickelten, und die ritterliche Ehre, wie der
kriegeriſche Ruhm durch Fanatismus und Golddurſt befleckt
wurden? Die Koloniſten ſind von ſanfter Gemütsart, ſie
ſind durch ihre Lage den Nationalvorurteilen enthoben, und
ſo wiſſen ſie die Thaten bei der Eroberung nach ihrem wahren
Werte zu ſchätzen. Die Männer, die ſich damals ausge-
zeichnet, ſind Europäer, ſind Krieger des Mutterlandes. In
den Augen des Koloniſten ſind ſie Fremde, denn drei Jahr-
hunderte haben hingereicht, die Bande des Blutes aufzulöſen.
Unter den „Konquiſtadoren“ waren ſicher rechtſchaffene und
edle Männer, aber ſie verſchwinden in der Maſſe und konnten
der allgemeinen Verdammnis nicht entgehen.

Ich glaube hiermit die hauptſächlichſten Urſachen ange-
geben zu haben, aus denen in den heutigen Kolonieen die
Nationalerinnerungen ſich verlieren, ohne daß andere, auf
das nunmehr bewohnte Land ſich beziehende würdig an ihre
Stelle träten. Dieſer Umſtand, wir können es nicht genug
wiederholen, äußert einen bedeutenden Einfluß auf die ganze
Lage der Anſiedler. In der ſtürmevollen Zeit einer ſtaat-
lichen Wiedergeburt ſehen ſie ſich auf ſich ſelbſt geſtellt, und
es ergeht ihnen wie einem Volke, das es verſchmähte, ſeine
Geſchichtsbücher zu befragen und aus den Unfällen vergan-
gener Jahrhunderte Lehren der Weisheit zu ſchöpfen.



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[211/0227] bauſtaaten an den großen Welthändeln immer nur paſſiven Anteil genommen. Die Geſchichte der neuen Kolonieen hat nur zwei merk- würdige Ereigniſſe aufzuweiſen, ihre Gründung und ihre Trennung vom Mutterlande. Das erſtere iſt reich an Er- innerungen, die ſich weſentlich an die von den Koloniſten bewohnten Länder knüpfen; aber ſtatt Bilder des friedlichen Fortſchrittes des Gewerbfleißes und der Entwickelung der Geſetzgebung in den Kolonieen vorzuführen, erzählt dieſe Ge- ſchichte nur von verübtem Unrecht und von Gewaltthaten. Welchen Reiz können jene außerordentlichen Zeiten haben, wo die Spanier unter Karls V. Regierung mehr Mut als ſittliche Kraft entwickelten, und die ritterliche Ehre, wie der kriegeriſche Ruhm durch Fanatismus und Golddurſt befleckt wurden? Die Koloniſten ſind von ſanfter Gemütsart, ſie ſind durch ihre Lage den Nationalvorurteilen enthoben, und ſo wiſſen ſie die Thaten bei der Eroberung nach ihrem wahren Werte zu ſchätzen. Die Männer, die ſich damals ausge- zeichnet, ſind Europäer, ſind Krieger des Mutterlandes. In den Augen des Koloniſten ſind ſie Fremde, denn drei Jahr- hunderte haben hingereicht, die Bande des Blutes aufzulöſen. Unter den „Konquiſtadoren“ waren ſicher rechtſchaffene und edle Männer, aber ſie verſchwinden in der Maſſe und konnten der allgemeinen Verdammnis nicht entgehen. Ich glaube hiermit die hauptſächlichſten Urſachen ange- geben zu haben, aus denen in den heutigen Kolonieen die Nationalerinnerungen ſich verlieren, ohne daß andere, auf das nunmehr bewohnte Land ſich beziehende würdig an ihre Stelle träten. Dieſer Umſtand, wir können es nicht genug wiederholen, äußert einen bedeutenden Einfluß auf die ganze Lage der Anſiedler. In der ſtürmevollen Zeit einer ſtaat- lichen Wiedergeburt ſehen ſie ſich auf ſich ſelbſt geſtellt, und es ergeht ihnen wie einem Volke, das es verſchmähte, ſeine Geſchichtsbücher zu befragen und aus den Unfällen vergan- gener Jahrhunderte Lehren der Weisheit zu ſchöpfen.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/227>, abgerufen am 21.11.2024.