Man gelangt gefahrlos auf den Boden des Kraters. Bei einem Vulkan, dessen Hauptthätigkeit dem Gipfel zu geht, wie beim Vesuv, wechselt die Tiefe des Kraters vor und nach jedem Ausbruch; auf dem Pik von Tenerifa dagegen scheint die Tiefe seit langer Zeit sich gleich geblieben zu sein. Edens schätzte sie im Jahre 1715 auf 37 m, Cordier im Jahre 1803 auf 35,5. Nach dem Augenmaß hätte ich geglaubt, daß der Trichter nicht einmal so tief wäre. In seinem jetzigen Zu- stand ist er eigentlich eine Solfatara; er ist ein weites Feld für interessante Beobachtungen, aber imposant ist sein Anblick nicht. Großartig wird der Punkt nur durch die Höhe über dem Meeresspiegel, durch die tiefe Stille in dieser hohen Region, durch den unermeßlichen Erdraum, den das Auge auf der Spitze des Berges überblickt.
Die Besteigung des Vulkanes von Tenerifa ist nicht nur dadurch anziehend, daß sie uns so reichen Stoff für wissen- schaftliche Forschung liefert; sie ist es noch weit mehr dadurch, daß sie dem, der Sinn hat für die Größe der Natur, eine Fülle malerischer Reize bietet. Solche Empfindungen zu schildern, ist eine schwere Aufgabe; sie regen uns desto tiefer auf, da sie etwas Unbestimmtes haben, wie es die Unermeß- lichkeit des Raumes und die Größe, Neuheit und Mannig- faltigkeit der uns umgebenden Gegenstände mit sich bringen. Wenn ein Reisender die hohen Berggipfel unseres Erdballes, die Katarakten der großen Ströme, die gewundenen Thäler der Anden zu beschreiben hat, so läuft er Gefahr, den Leser durch den eintönigen Ausdruck seiner Bewunderung zu er- müden. Es scheint mir den Zwecken, die ich bei dieser Reise- beschreibung im Auge habe, angemessener, den eigentümlichen Charakter zu schildern, der jeden Landstrich auszeichnet. Man lehrt die Physiognomie einer Landschaft desto besser kennen, je genauer man die einzelnen Züge auffaßt, sie unterein- ander vergleicht und so auf dem Wege der Analysis den Quellen der Genüsse nachgeht, die uns das große Natur- gemälde bietet.
Die Reisenden wissen aus Erfahrung, daß man auf der Spitze sehr hoher Berge selten eine so schöne Aussicht hat und so mannigfaltige malerische Effekte beobachtet als auf Gipfeln von der Höhe des Vesuvs, des Rigi, des Puy de Dome. Kolossale Berge wie der Chimborazo, der Antisana oder der Montblanc haben eine so große Masse, daß man die mit reichem Pflanzenwuchs bedeckten Ebenen nur in großer
Man gelangt gefahrlos auf den Boden des Kraters. Bei einem Vulkan, deſſen Hauptthätigkeit dem Gipfel zu geht, wie beim Veſuv, wechſelt die Tiefe des Kraters vor und nach jedem Ausbruch; auf dem Pik von Tenerifa dagegen ſcheint die Tiefe ſeit langer Zeit ſich gleich geblieben zu ſein. Edens ſchätzte ſie im Jahre 1715 auf 37 m, Cordier im Jahre 1803 auf 35,5. Nach dem Augenmaß hätte ich geglaubt, daß der Trichter nicht einmal ſo tief wäre. In ſeinem jetzigen Zu- ſtand iſt er eigentlich eine Solfatara; er iſt ein weites Feld für intereſſante Beobachtungen, aber impoſant iſt ſein Anblick nicht. Großartig wird der Punkt nur durch die Höhe über dem Meeresſpiegel, durch die tiefe Stille in dieſer hohen Region, durch den unermeßlichen Erdraum, den das Auge auf der Spitze des Berges überblickt.
Die Beſteigung des Vulkanes von Tenerifa iſt nicht nur dadurch anziehend, daß ſie uns ſo reichen Stoff für wiſſen- ſchaftliche Forſchung liefert; ſie iſt es noch weit mehr dadurch, daß ſie dem, der Sinn hat für die Größe der Natur, eine Fülle maleriſcher Reize bietet. Solche Empfindungen zu ſchildern, iſt eine ſchwere Aufgabe; ſie regen uns deſto tiefer auf, da ſie etwas Unbeſtimmtes haben, wie es die Unermeß- lichkeit des Raumes und die Größe, Neuheit und Mannig- faltigkeit der uns umgebenden Gegenſtände mit ſich bringen. Wenn ein Reiſender die hohen Berggipfel unſeres Erdballes, die Katarakten der großen Ströme, die gewundenen Thäler der Anden zu beſchreiben hat, ſo läuft er Gefahr, den Leſer durch den eintönigen Ausdruck ſeiner Bewunderung zu er- müden. Es ſcheint mir den Zwecken, die ich bei dieſer Reiſe- beſchreibung im Auge habe, angemeſſener, den eigentümlichen Charakter zu ſchildern, der jeden Landſtrich auszeichnet. Man lehrt die Phyſiognomie einer Landſchaft deſto beſſer kennen, je genauer man die einzelnen Züge auffaßt, ſie unterein- ander vergleicht und ſo auf dem Wege der Analyſis den Quellen der Genüſſe nachgeht, die uns das große Natur- gemälde bietet.
Die Reiſenden wiſſen aus Erfahrung, daß man auf der Spitze ſehr hoher Berge ſelten eine ſo ſchöne Ausſicht hat und ſo mannigfaltige maleriſche Effekte beobachtet als auf Gipfeln von der Höhe des Veſuvs, des Rigi, des Puy de Dome. Koloſſale Berge wie der Chimborazo, der Antiſana oder der Montblanc haben eine ſo große Maſſe, daß man die mit reichem Pflanzenwuchs bedeckten Ebenen nur in großer
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Man gelangt gefahrlos auf den Boden des Kraters.
Bei einem Vulkan, deſſen Hauptthätigkeit dem Gipfel zu geht,
wie beim Veſuv, wechſelt die Tiefe des Kraters vor und nach
jedem Ausbruch; auf dem Pik von Tenerifa dagegen ſcheint
die Tiefe ſeit langer Zeit ſich gleich geblieben zu ſein. Edens
ſchätzte ſie im Jahre 1715 auf 37 m, Cordier im Jahre 1803
auf 35,5. Nach dem Augenmaß hätte ich geglaubt, daß der
Trichter nicht einmal ſo tief wäre. In ſeinem jetzigen Zu-
ſtand iſt er eigentlich eine Solfatara; er iſt ein weites Feld
für intereſſante Beobachtungen, aber impoſant iſt ſein Anblick
nicht. Großartig wird der Punkt nur durch die Höhe über
dem Meeresſpiegel, durch die tiefe Stille in dieſer hohen
Region, durch den unermeßlichen Erdraum, den das Auge auf
der Spitze des Berges überblickt.
Die Beſteigung des Vulkanes von Tenerifa iſt nicht nur
dadurch anziehend, daß ſie uns ſo reichen Stoff für wiſſen-
ſchaftliche Forſchung liefert; ſie iſt es noch weit mehr dadurch,
daß ſie dem, der Sinn hat für die Größe der Natur, eine
Fülle maleriſcher Reize bietet. Solche Empfindungen zu
ſchildern, iſt eine ſchwere Aufgabe; ſie regen uns deſto tiefer
auf, da ſie etwas Unbeſtimmtes haben, wie es die Unermeß-
lichkeit des Raumes und die Größe, Neuheit und Mannig-
faltigkeit der uns umgebenden Gegenſtände mit ſich bringen.
Wenn ein Reiſender die hohen Berggipfel unſeres Erdballes,
die Katarakten der großen Ströme, die gewundenen Thäler
der Anden zu beſchreiben hat, ſo läuft er Gefahr, den Leſer
durch den eintönigen Ausdruck ſeiner Bewunderung zu er-
müden. Es ſcheint mir den Zwecken, die ich bei dieſer Reiſe-
beſchreibung im Auge habe, angemeſſener, den eigentümlichen
Charakter zu ſchildern, der jeden Landſtrich auszeichnet. Man
lehrt die Phyſiognomie einer Landſchaft deſto beſſer kennen,
je genauer man die einzelnen Züge auffaßt, ſie unterein-
ander vergleicht und ſo auf dem Wege der Analyſis den
Quellen der Genüſſe nachgeht, die uns das große Natur-
gemälde bietet.
Die Reiſenden wiſſen aus Erfahrung, daß man auf der
Spitze ſehr hoher Berge ſelten eine ſo ſchöne Ausſicht hat
und ſo mannigfaltige maleriſche Effekte beobachtet als auf
Gipfeln von der Höhe des Veſuvs, des Rigi, des Puy de
Dome. Koloſſale Berge wie der Chimborazo, der Antiſana
oder der Montblanc haben eine ſo große Maſſe, daß man die
mit reichem Pflanzenwuchs bedeckten Ebenen nur in großer
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/106>, abgerufen am 16.02.2025.
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