stände, die es geben kann), desto schwä- chender und anstrengender ist es. Eine halbe Stunde solcher Abstraction er- schöpft mehr, als ein ganzer Tag Ueber- setzungsarbeit. Aber auch hier ist viel relatives. Mancher ist dazu geboren, er hat die Kraft und die besondere Gei- stesstimmung, die diese Arbeiten erfor- dern, da hingegen manchem beydes fehlt, und er es dennoch erzwingen will. Es scheint mir sehr sonderbar, dass man bey Hebung einer körperlichen Last immer erst seine Kräfte untersucht, ob sie nicht für dieselben zu schwehr ist, und hingegen bey geistigen Lasten nicht auch die Geisteskräfte zu Rathe zieht, ob sie ihnen gewachsen sind. Wie man- chen habe ich dadurch unglücklich und kränklich werden sehen, dass er die Tie- fen der Philosophie ergründen zu müssen glaubte, ohne einen philosophischen Kopf zu haben! Muss denn jeder Mensch ein Philosoph von Profession seyn, wie es jezt Mode zu werden
ſtände, die es geben kann), deſto ſchwä- chender und anſtrengender iſt es. Eine halbe Stunde ſolcher Abſtraction er- ſchöpft mehr, als ein ganzer Tag Ueber- ſetzungsarbeit. Aber auch hier iſt viel relatives. Mancher iſt dazu geboren, er hat die Kraft und die beſondere Gei- ſtesſtimmung, die dieſe Arbeiten erfor- dern, da hingegen manchem beydes fehlt, und er es dennoch erzwingen will. Es ſcheint mir ſehr ſonderbar, daſs man bey Hebung einer körperlichen Laſt immer erſt ſeine Kräfte unterſucht, ob ſie nicht für dieſelben zu ſchwehr iſt, und hingegen bey geiſtigen Laſten nicht auch die Geiſteskräfte zu Rathe zieht, ob ſie ihnen gewachſen ſind. Wie man- chen habe ich dadurch unglücklich und kränklich werden ſehen, daſs er die Tie- fen der Philoſophie ergründen zu müſſen glaubte, ohne einen philoſophiſchen Kopf zu haben! Muſs denn jeder Menſch ein Philoſoph von Profeſſion ſeyn, wie es jezt Mode zu werden
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ſtände, die es geben kann), deſto ſchwä-
chender und anſtrengender iſt es. Eine
halbe Stunde ſolcher Abſtraction er-
ſchöpft mehr, als ein ganzer Tag Ueber-
ſetzungsarbeit. Aber auch hier iſt viel
relatives. Mancher iſt dazu geboren,
er hat die Kraft und die beſondere Gei-
ſtesſtimmung, die dieſe Arbeiten erfor-
dern, da hingegen manchem beydes
fehlt, und er es dennoch erzwingen
will. Es ſcheint mir ſehr ſonderbar,
daſs man bey Hebung einer körperlichen
Laſt immer erſt ſeine Kräfte unterſucht,
ob ſie nicht für dieſelben zu ſchwehr iſt,
und hingegen bey geiſtigen Laſten nicht
auch die Geiſteskräfte zu Rathe zieht,
ob ſie ihnen gewachſen ſind. Wie man-
chen habe ich dadurch unglücklich und
kränklich werden ſehen, daſs er die Tie-
fen der Philoſophie ergründen zu müſſen
glaubte, ohne einen philoſophiſchen
Kopf zu haben! Muſs denn jeder
Menſch ein Philoſoph von Profeſſion
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Hufeland, Christoph Wilhelm: Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Jena, 1797, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hufeland_leben_1797/385>, abgerufen am 24.11.2024.
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