Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Beruhige dich, mein Kind: am meisten glänzt, wer am meisten glüht. Der deutsche Doctor war gerade wieder auf der Villa zu Besuch, als die Hochzeit stattfand. Und obwohl ein Ketzer, ging er diesmal mit in die Kirche hinein und hörte die Trauungsrede des Priore. Einige Tage später schrieb er in einem Brief an einen deutschen Freund unter Anderem auch diese Worte: "In meiner Arbeit über die historische Entwicklung des italienischen Volkscharakters ist eine für mich sehr bedauerliche Stockung eingetreten. Ich ging, wie du weißt, davon aus, daß Leidenschaftlichkeit des Empfindens, Schlaffheit im Handeln die Grundzüge dieses Charakters bilden. Allein zwei Frauentypen, die ich von Nahem zu studiren die Gelegenheit hatte, haben mich einigermaßen irre gemacht: zwei Typen, deren einer ganz Thätigkeit, deren anderer Abwesenheit aller Leidenschaft ist. So lange es mir nicht gelungen sein wird, das Gesetz, welches diese Ausnahmen erklärt, deutlich zu erkennen, wird meine Untersuchung nicht vom Flecke kommen. Was meinst du? ob ich hier wohl dem großen Probleme der Einwirkung des longobardischen Elementes auf das römische Volksthum etwas näher rücke?" Beruhige dich, mein Kind: am meisten glänzt, wer am meisten glüht. Der deutsche Doctor war gerade wieder auf der Villa zu Besuch, als die Hochzeit stattfand. Und obwohl ein Ketzer, ging er diesmal mit in die Kirche hinein und hörte die Trauungsrede des Priore. Einige Tage später schrieb er in einem Brief an einen deutschen Freund unter Anderem auch diese Worte: „In meiner Arbeit über die historische Entwicklung des italienischen Volkscharakters ist eine für mich sehr bedauerliche Stockung eingetreten. Ich ging, wie du weißt, davon aus, daß Leidenschaftlichkeit des Empfindens, Schlaffheit im Handeln die Grundzüge dieses Charakters bilden. Allein zwei Frauentypen, die ich von Nahem zu studiren die Gelegenheit hatte, haben mich einigermaßen irre gemacht: zwei Typen, deren einer ganz Thätigkeit, deren anderer Abwesenheit aller Leidenschaft ist. So lange es mir nicht gelungen sein wird, das Gesetz, welches diese Ausnahmen erklärt, deutlich zu erkennen, wird meine Untersuchung nicht vom Flecke kommen. Was meinst du? ob ich hier wohl dem großen Probleme der Einwirkung des longobardischen Elementes auf das römische Volksthum etwas näher rücke?“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0087"/> <p>Beruhige dich, mein Kind: am meisten glänzt, wer am meisten glüht.</p><lb/> <p> Der deutsche Doctor war gerade wieder auf der Villa zu Besuch, als die Hochzeit stattfand. Und obwohl ein Ketzer, ging er diesmal mit in die Kirche hinein und hörte die Trauungsrede des Priore. Einige Tage später schrieb er in einem Brief an einen deutschen Freund unter Anderem auch diese Worte: „In meiner Arbeit über die historische Entwicklung des italienischen Volkscharakters ist eine für mich sehr bedauerliche Stockung eingetreten. Ich ging, wie du weißt, davon aus, daß Leidenschaftlichkeit des Empfindens, Schlaffheit im Handeln die Grundzüge dieses Charakters bilden. Allein zwei Frauentypen, die ich von Nahem zu studiren die Gelegenheit hatte, haben mich einigermaßen irre gemacht: zwei Typen, deren einer ganz Thätigkeit, deren anderer Abwesenheit aller Leidenschaft ist. So lange es mir nicht gelungen sein wird, das Gesetz, welches diese Ausnahmen erklärt, deutlich zu erkennen, wird meine Untersuchung nicht vom Flecke kommen. Was meinst du? ob ich hier wohl dem großen Probleme der Einwirkung des longobardischen Elementes auf das römische Volksthum etwas näher rücke?“</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [0087]
Beruhige dich, mein Kind: am meisten glänzt, wer am meisten glüht.
Der deutsche Doctor war gerade wieder auf der Villa zu Besuch, als die Hochzeit stattfand. Und obwohl ein Ketzer, ging er diesmal mit in die Kirche hinein und hörte die Trauungsrede des Priore. Einige Tage später schrieb er in einem Brief an einen deutschen Freund unter Anderem auch diese Worte: „In meiner Arbeit über die historische Entwicklung des italienischen Volkscharakters ist eine für mich sehr bedauerliche Stockung eingetreten. Ich ging, wie du weißt, davon aus, daß Leidenschaftlichkeit des Empfindens, Schlaffheit im Handeln die Grundzüge dieses Charakters bilden. Allein zwei Frauentypen, die ich von Nahem zu studiren die Gelegenheit hatte, haben mich einigermaßen irre gemacht: zwei Typen, deren einer ganz Thätigkeit, deren anderer Abwesenheit aller Leidenschaft ist. So lange es mir nicht gelungen sein wird, das Gesetz, welches diese Ausnahmen erklärt, deutlich zu erkennen, wird meine Untersuchung nicht vom Flecke kommen. Was meinst du? ob ich hier wohl dem großen Probleme der Einwirkung des longobardischen Elementes auf das römische Volksthum etwas näher rücke?“
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