Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Kennt Ihr mich, Massaia? so begann die Dame das Gespräch. Wie sollt' ich solch eine gute und berühmte Signora nicht kennen! rief die Bäuerin und machte eine so artige Handbewegung, als wäre sie an den täglichen Empfang so vornehmen Besuches gewöhnt. Nun war es eine Lust für den ausländischen Gast, das lebhafteste Gespräch in dem reinsten und ausdrucksvollsten Toscanisch mitanzuhören. Die beiden Frauen, die Dame und die Bäuerin, waren von der Natur mit einer wundervollen Beredsamkeit ausgestattet worden, und wenn jene sich auf das Fragen verstand, so liebte diese das Antworten. Mit großer Kunst führte Donna Ersilia das Gespräch so, daß sie bereits nach einer Viertelstunde alle Verhältnisse der Familie Landi aufs Genaueste in Erfahrung gebracht hatte. Ja, ich weiß, Gigia ist die schönste Eurer Töchter. Es wundert mich, daß Ihr sie allein noch nicht versorgt habt. O Signora mia, versetzte die Bäuerin und streckte wie zur Abwehr eines ungerechten Verdachtes die Hand aus, wie oft hätte ich sie versorgen können! Ich darf wohl sagen, wenn ich die Parteien, die sich ihr antrugen, an den Fingern aufzählen wollte, ich hätte nicht Finger genug. Es giebt keinen Burschen in Urballa[,] der ihr nicht zuschielte, und darunter die wohlhabendsten. Ich will nur zwei nennen: Agenore Lori, der älteste Sohn des Beppe -- Beppe ist Colone des Marchese Kennt Ihr mich, Massaia? so begann die Dame das Gespräch. Wie sollt' ich solch eine gute und berühmte Signora nicht kennen! rief die Bäuerin und machte eine so artige Handbewegung, als wäre sie an den täglichen Empfang so vornehmen Besuches gewöhnt. Nun war es eine Lust für den ausländischen Gast, das lebhafteste Gespräch in dem reinsten und ausdrucksvollsten Toscanisch mitanzuhören. Die beiden Frauen, die Dame und die Bäuerin, waren von der Natur mit einer wundervollen Beredsamkeit ausgestattet worden, und wenn jene sich auf das Fragen verstand, so liebte diese das Antworten. Mit großer Kunst führte Donna Ersilia das Gespräch so, daß sie bereits nach einer Viertelstunde alle Verhältnisse der Familie Landi aufs Genaueste in Erfahrung gebracht hatte. Ja, ich weiß, Gigia ist die schönste Eurer Töchter. Es wundert mich, daß Ihr sie allein noch nicht versorgt habt. O Signora mia, versetzte die Bäuerin und streckte wie zur Abwehr eines ungerechten Verdachtes die Hand aus, wie oft hätte ich sie versorgen können! Ich darf wohl sagen, wenn ich die Parteien, die sich ihr antrugen, an den Fingern aufzählen wollte, ich hätte nicht Finger genug. Es giebt keinen Burschen in Urballa[,] der ihr nicht zuschielte, und darunter die wohlhabendsten. Ich will nur zwei nennen: Agenore Lori, der älteste Sohn des Beppe — Beppe ist Colone des Marchese <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0025"/> <p>Kennt Ihr mich, Massaia? so begann die Dame das Gespräch.</p><lb/> <p>Wie sollt' ich solch eine gute und berühmte Signora nicht kennen! rief die Bäuerin und machte eine so artige Handbewegung, als wäre sie an den täglichen Empfang so vornehmen Besuches gewöhnt.</p><lb/> <p>Nun war es eine Lust für den ausländischen Gast, das lebhafteste Gespräch in dem reinsten und ausdrucksvollsten Toscanisch mitanzuhören. Die beiden Frauen, die Dame und die Bäuerin, waren von der Natur mit einer wundervollen Beredsamkeit ausgestattet worden, und wenn jene sich auf das Fragen verstand, so liebte diese das Antworten. Mit großer Kunst führte Donna Ersilia das Gespräch so, daß sie bereits nach einer Viertelstunde alle Verhältnisse der Familie Landi aufs Genaueste in Erfahrung gebracht hatte.</p><lb/> <p>Ja, ich weiß, Gigia ist die schönste Eurer Töchter. Es wundert mich, daß Ihr sie allein noch nicht versorgt habt.</p><lb/> <p>O <hi rendition="#aq">Signora mia,</hi> versetzte die Bäuerin und streckte wie zur Abwehr eines ungerechten Verdachtes die Hand aus, wie oft hätte ich sie versorgen können! Ich darf wohl sagen, wenn ich die Parteien, die sich ihr antrugen, an den Fingern aufzählen wollte, ich hätte nicht Finger genug. Es giebt keinen Burschen in Urballa<supplied>,</supplied> der ihr nicht zuschielte, und darunter die wohlhabendsten. Ich will nur zwei nennen: Agenore Lori, der älteste Sohn des Beppe — Beppe ist Colone des Marchese<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0025]
Kennt Ihr mich, Massaia? so begann die Dame das Gespräch.
Wie sollt' ich solch eine gute und berühmte Signora nicht kennen! rief die Bäuerin und machte eine so artige Handbewegung, als wäre sie an den täglichen Empfang so vornehmen Besuches gewöhnt.
Nun war es eine Lust für den ausländischen Gast, das lebhafteste Gespräch in dem reinsten und ausdrucksvollsten Toscanisch mitanzuhören. Die beiden Frauen, die Dame und die Bäuerin, waren von der Natur mit einer wundervollen Beredsamkeit ausgestattet worden, und wenn jene sich auf das Fragen verstand, so liebte diese das Antworten. Mit großer Kunst führte Donna Ersilia das Gespräch so, daß sie bereits nach einer Viertelstunde alle Verhältnisse der Familie Landi aufs Genaueste in Erfahrung gebracht hatte.
Ja, ich weiß, Gigia ist die schönste Eurer Töchter. Es wundert mich, daß Ihr sie allein noch nicht versorgt habt.
O Signora mia, versetzte die Bäuerin und streckte wie zur Abwehr eines ungerechten Verdachtes die Hand aus, wie oft hätte ich sie versorgen können! Ich darf wohl sagen, wenn ich die Parteien, die sich ihr antrugen, an den Fingern aufzählen wollte, ich hätte nicht Finger genug. Es giebt keinen Burschen in Urballa, der ihr nicht zuschielte, und darunter die wohlhabendsten. Ich will nur zwei nennen: Agenore Lori, der älteste Sohn des Beppe — Beppe ist Colone des Marchese
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Zitationshilfe: | Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 23. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–295. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/horner_saeugling_1910/25>, abgerufen am 22.07.2024. |