zu rechtfertigende Leidenschaft hineingeträumt haben soll!?
Darauf erwiedere ich der fragenden, holdseligen Leserin, daß ich erstens um geduldige Nachsicht bitte für einen jugendlichen Anfänger von 541/2 Jahren, der seinen ersten Roman schreibt (denn einige kürzere Versuche in dieser Gattung zählen kaum). Zweitens aber muß ich gestehen, daß ich selbst nicht weiß, woran ich mit diesem Kusse bin.
Das heißt: mir ist bekannt, -- und ich wäre gar ein schlechter Erzähler, sollte ich darüber noch Zweifel hegen! -- daß Ottilie zwei Finger ihrer linken Hand, nämlich den zweiten und dritten derselben, dicht an- einander gelegt, auf ihre Lippen preßte, mit letztern eine Bewegung des Zuspitzens machte, welche die Mundmuskeln anzunehmen pflegen, sobald sie hervor- bringen wollen, was man einen Kuß nennt. Daß sie solchen flüchtigen, dennoch heißen Kuß den Abend- lüften anvertraute und daß ihr feuchtes Auge dem scheidenden, aus der dichten dunklen Weinlaube in den freieren Hofraum schreitenden Anton nachblickte, ist ebenfalls historisch gewiß und mit jenem Stempel innerster Wahrheit versehen, den mein ganzes Buch in allen größeren und kleineren Bestandtheilen trägt.
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zu rechtfertigende Leidenſchaft hineingetraͤumt haben ſoll!?
Darauf erwiedere ich der fragenden, holdſeligen Leſerin, daß ich erſtens um geduldige Nachſicht bitte fuͤr einen jugendlichen Anfaͤnger von 54½ Jahren, der ſeinen erſten Roman ſchreibt (denn einige kuͤrzere Verſuche in dieſer Gattung zaͤhlen kaum). Zweitens aber muß ich geſtehen, daß ich ſelbſt nicht weiß, woran ich mit dieſem Kuſſe bin.
Das heißt: mir iſt bekannt, — und ich waͤre gar ein ſchlechter Erzaͤhler, ſollte ich daruͤber noch Zweifel hegen! — daß Ottilie zwei Finger ihrer linken Hand, naͤmlich den zweiten und dritten derſelben, dicht an- einander gelegt, auf ihre Lippen preßte, mit letztern eine Bewegung des Zuſpitzens machte, welche die Mundmuskeln anzunehmen pflegen, ſobald ſie hervor- bringen wollen, was man einen Kuß nennt. Daß ſie ſolchen fluͤchtigen, dennoch heißen Kuß den Abend- luͤften anvertraute und daß ihr feuchtes Auge dem ſcheidenden, aus der dichten dunklen Weinlaube in den freieren Hofraum ſchreitenden Anton nachblickte, iſt ebenfalls hiſtoriſch gewiß und mit jenem Stempel innerſter Wahrheit verſehen, den mein ganzes Buch in allen groͤßeren und kleineren Beſtandtheilen traͤgt.
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zu rechtfertigende Leidenſchaft hineingetraͤumt haben
ſoll!?
Darauf erwiedere ich der fragenden, holdſeligen
Leſerin, daß ich erſtens um geduldige Nachſicht bitte
fuͤr einen jugendlichen Anfaͤnger von 54½ Jahren, der
ſeinen erſten Roman ſchreibt (denn einige kuͤrzere
Verſuche in dieſer Gattung zaͤhlen kaum). Zweitens
aber muß ich geſtehen, daß ich ſelbſt nicht weiß, woran
ich mit dieſem Kuſſe bin.
Das heißt: mir iſt bekannt, — und ich waͤre gar
ein ſchlechter Erzaͤhler, ſollte ich daruͤber noch Zweifel
hegen! — daß Ottilie zwei Finger ihrer linken Hand,
naͤmlich den zweiten und dritten derſelben, dicht an-
einander gelegt, auf ihre Lippen preßte, mit letztern
eine Bewegung des Zuſpitzens machte, welche die
Mundmuskeln anzunehmen pflegen, ſobald ſie hervor-
bringen wollen, was man einen Kuß nennt. Daß
ſie ſolchen fluͤchtigen, dennoch heißen Kuß den Abend-
luͤften anvertraute und daß ihr feuchtes Auge dem
ſcheidenden, aus der dichten dunklen Weinlaube in den
freieren Hofraum ſchreitenden Anton nachblickte, iſt
ebenfalls hiſtoriſch gewiß und mit jenem Stempel
innerſter Wahrheit verſehen, den mein ganzes Buch
in allen groͤßeren und kleineren Beſtandtheilen traͤgt.
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/99>, abgerufen am 24.11.2024.
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