Du sagtest nur ein Leb' wohl mir, Jch aber sende tausend Dir: Leb' wohl -- denn ich muß gehen.
Das so beschriebene Blatt heftete er auf den Käfig seiner Turteltaube, den er sodann nach dem Schlosse trug, wo bereits alle Kerzen gelöscht waren, außer in der Kammer des Kochs. Dort gab er ihn ab, nachdem er lange vergebens mit Steinchen an's Fenster geworfen, um den verschlafenen Menschen zu erwecken. "Für's jüngste Fräulein!" fügt' er bei -- und verschwand. Dann lief er wieder nach seinem Hause, hing sein Gepäck um, ergriff den Schlüssel- bund, löschte das Lämpchen, schloß die Thüren, und eilte, als ob er fürchte, es könne ihm noch leid werden, dem Pfarrhofe zu. Da ließ ihn die taube, sechszig- jährige Magd ohne Weiteres ein, obwohl der Herr Pastor schon längst zu Bette lag; denn schlafen -- (meinte sie) -- thut er ja so nicht.
Sie irrte, die ehrliche Liese: er schlief. Anton küßte dem würdigen Manne behutsam die Hand, legte seine Schlüsselsammlung auf den Stuhl am Bett; versicherte beim Fortschleichen die fragende Liese, daß schon ausgerichtet sei, was er Seiner Ehr- würden, dem Herrn Vormund zu bestellen gehabt; -- und jetzt wollt er eben den Seitenweg aus der
Du ſagteſt nur ein Leb’ wohl mir, Jch aber ſende tauſend Dir: Leb’ wohl — denn ich muß gehen.
Das ſo beſchriebene Blatt heftete er auf den Kaͤfig ſeiner Turteltaube, den er ſodann nach dem Schloſſe trug, wo bereits alle Kerzen geloͤſcht waren, außer in der Kammer des Kochs. Dort gab er ihn ab, nachdem er lange vergebens mit Steinchen an’s Fenſter geworfen, um den verſchlafenen Menſchen zu erwecken. „Fuͤr’s juͤngſte Fraͤulein!“ fuͤgt’ er bei — und verſchwand. Dann lief er wieder nach ſeinem Hauſe, hing ſein Gepaͤck um, ergriff den Schluͤſſel- bund, loͤſchte das Laͤmpchen, ſchloß die Thuͤren, und eilte, als ob er fuͤrchte, es koͤnne ihm noch leid werden, dem Pfarrhofe zu. Da ließ ihn die taube, ſechszig- jaͤhrige Magd ohne Weiteres ein, obwohl der Herr Paſtor ſchon laͤngſt zu Bette lag; denn ſchlafen — (meinte ſie) — thut er ja ſo nicht.
Sie irrte, die ehrliche Lieſe: er ſchlief. Anton kuͤßte dem wuͤrdigen Manne behutſam die Hand, legte ſeine Schluͤſſelſammlung auf den Stuhl am Bett; verſicherte beim Fortſchleichen die fragende Lieſe, daß ſchon ausgerichtet ſei, was er Seiner Ehr- wuͤrden, dem Herrn Vormund zu beſtellen gehabt; — und jetzt wollt er eben den Seitenweg aus der
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Du ſagteſt nur ein Leb’ wohl mir,
Jch aber ſende tauſend Dir:
Leb’ wohl — denn ich muß gehen.
Das ſo beſchriebene Blatt heftete er auf den
Kaͤfig ſeiner Turteltaube, den er ſodann nach dem
Schloſſe trug, wo bereits alle Kerzen geloͤſcht waren,
außer in der Kammer des Kochs. Dort gab er ihn
ab, nachdem er lange vergebens mit Steinchen an’s
Fenſter geworfen, um den verſchlafenen Menſchen zu
erwecken. „Fuͤr’s juͤngſte Fraͤulein!“ fuͤgt’ er bei —
und verſchwand. Dann lief er wieder nach ſeinem
Hauſe, hing ſein Gepaͤck um, ergriff den Schluͤſſel-
bund, loͤſchte das Laͤmpchen, ſchloß die Thuͤren, und
eilte, als ob er fuͤrchte, es koͤnne ihm noch leid werden,
dem Pfarrhofe zu. Da ließ ihn die taube, ſechszig-
jaͤhrige Magd ohne Weiteres ein, obwohl der Herr
Paſtor ſchon laͤngſt zu Bette lag; denn ſchlafen —
(meinte ſie) — thut er ja ſo nicht.
Sie irrte, die ehrliche Lieſe: er ſchlief. Anton
kuͤßte dem wuͤrdigen Manne behutſam die Hand,
legte ſeine Schluͤſſelſammlung auf den Stuhl am
Bett; verſicherte beim Fortſchleichen die fragende
Lieſe, daß ſchon ausgerichtet ſei, was er Seiner Ehr-
wuͤrden, dem Herrn Vormund zu beſtellen gehabt;
— und jetzt wollt er eben den Seitenweg aus der
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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/238>, abgerufen am 24.11.2024.
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