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Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Zweiter Band. Tübingen, 1799.

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im Geiste, vor der ich erschrak, ein innres Leben, vor dem das Leben der Erd' erblaßt' und schwand, wie Nachtlampen im Morgenroth - soll ichs sagen? ich hätte mögen nach Delphi gehn und dem Gott der Begeisterung einen Tempel bauen unter den Felsen des alten Parnaß, und, eine neue Pythia, die schlaffen Völker mit Göttersprüchen entzünden, und meine Seele weiß, den Gottverlaßnen allen hätte der jungfräuliche Mund die Augen geöffnet und die dumpfen Stirnen entfaltet, so mächtig war der Geist des Lebens in mir! Doch müder und müder wurden die sterblichen Glieder und die ängstigende Schwere zog mich unerbittlich hinab. Ach! oft in meiner stillen Laube hab' ich um der Jugend Rosen geweint! sie welkten und welkten, und nur von Thränen färbte deines Mädchens Wange sich roth. Es waren die vorigen Bäume noch, es war die vorige Laube - da stand einst deine Diotima, dein Kind, Hyperion, vor deinen glüklichen Augen, eine Blume unter den Blumen und die Kräfte der Erde und des Himmels trafen sich friedlich zusammen in ihr; nun gieng sie, eine Fremdlingin unter den Knospen des Mais, und ihre Vertrauten, die lieblichen Pflanzen, nikten ihr freundlich, sie aber konnte nur trauern; doch gieng ich keine

II. Bd. G

im Geiste, vor der ich erschrak, ein innres Leben, vor dem das Leben der Erd’ erblaßt’ und schwand, wie Nachtlampen im Morgenroth – soll ichs sagen? ich hätte mögen nach Delphi gehn und dem Gott der Begeisterung einen Tempel bauen unter den Felsen des alten Parnaß, und, eine neue Pythia, die schlaffen Völker mit Göttersprüchen entzünden, und meine Seele weiß, den Gottverlaßnen allen hätte der jungfräuliche Mund die Augen geöffnet und die dumpfen Stirnen entfaltet, so mächtig war der Geist des Lebens in mir! Doch müder und müder wurden die sterblichen Glieder und die ängstigende Schwere zog mich unerbittlich hinab. Ach! oft in meiner stillen Laube hab’ ich um der Jugend Rosen geweint! sie welkten und welkten, und nur von Thränen färbte deines Mädchens Wange sich roth. Es waren die vorigen Bäume noch, es war die vorige Laube – da stand einst deine Diotima, dein Kind, Hyperion, vor deinen glüklichen Augen, eine Blume unter den Blumen und die Kräfte der Erde und des Himmels trafen sich friedlich zusammen in ihr; nun gieng sie, eine Fremdlingin unter den Knospen des Mais, und ihre Vertrauten, die lieblichen Pflanzen, nikten ihr freundlich, sie aber konnte nur trauern; doch gieng ich keine

II. Bd. G
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[0097] im Geiste, vor der ich erschrak, ein innres Leben, vor dem das Leben der Erd’ erblaßt’ und schwand, wie Nachtlampen im Morgenroth – soll ichs sagen? ich hätte mögen nach Delphi gehn und dem Gott der Begeisterung einen Tempel bauen unter den Felsen des alten Parnaß, und, eine neue Pythia, die schlaffen Völker mit Göttersprüchen entzünden, und meine Seele weiß, den Gottverlaßnen allen hätte der jungfräuliche Mund die Augen geöffnet und die dumpfen Stirnen entfaltet, so mächtig war der Geist des Lebens in mir! Doch müder und müder wurden die sterblichen Glieder und die ängstigende Schwere zog mich unerbittlich hinab. Ach! oft in meiner stillen Laube hab’ ich um der Jugend Rosen geweint! sie welkten und welkten, und nur von Thränen färbte deines Mädchens Wange sich roth. Es waren die vorigen Bäume noch, es war die vorige Laube – da stand einst deine Diotima, dein Kind, Hyperion, vor deinen glüklichen Augen, eine Blume unter den Blumen und die Kräfte der Erde und des Himmels trafen sich friedlich zusammen in ihr; nun gieng sie, eine Fremdlingin unter den Knospen des Mais, und ihre Vertrauten, die lieblichen Pflanzen, nikten ihr freundlich, sie aber konnte nur trauern; doch gieng ich keine II. Bd. G

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Zitationshilfe: Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Zweiter Band. Tübingen, 1799, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_hyperion02_1799/97>, abgerufen am 02.05.2024.