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Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Erster Band. Tübingen, 1797.

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Man konnt' es aus einander sezen, zertheilen im Geiste, konnte das Getheilte neu zusammendenken, konnte so das Wesen des Höchsten und Besten mehr und mehr erkennen und das Erkannte zum Geseze geben in des Geistes mannigfaltigen Gebieten.

Seht ihr nun, warum besonders die Athener auch ein philosophisch Volk seyn mussten?

Das konnte der Aegyptier nicht. Wer mit dem Himmel und der Erde nicht in gleicher Lieb' und Gegenliebe lebt, wer nicht in diesem Sinne einig lebt mit dem Elemente, worinn er sich regt, ist von Natur auch in sich selbst so einig nicht, und erfährt die ewige Schönheit wenigstens so leicht nicht wie ein Grieche.

Wie ein prächtiger Despot, wirft seine Bewohner der orientalische Himmelsstrich mit seiner Macht und seinem Glanze zu Boden, und, ehe der Mensch noch gehen gelernt hat, muss er knieen, eh' er sprechen gelernt hat, muss er beten; ehe sein Herz ein Gleichgewicht hat, muss es sich neigen, und ehe der Geist noch stark genug ist, Blumen und Früchte zu tragen, ziehet Schiksaal und Natur mit brennender Hizze alle Kraft aus ihm. Der Aegyptier ist hingegeben, eh' er ein Ganzes ist, und darum weiss er nichts vom Ganzen, nichts von Schön-

Man konnt’ es aus einander sezen, zertheilen im Geiste, konnte das Getheilte neu zusammendenken, konnte so das Wesen des Höchsten und Besten mehr und mehr erkennen und das Erkannte zum Geseze geben in des Geistes mannigfaltigen Gebieten.

Seht ihr nun, warum besonders die Athener auch ein philosophisch Volk seyn mussten?

Das konnte der Aegyptier nicht. Wer mit dem Himmel und der Erde nicht in gleicher Lieb’ und Gegenliebe lebt, wer nicht in diesem Sinne einig lebt mit dem Elemente, worinn er sich regt, ist von Natur auch in sich selbst so einig nicht, und erfährt die ewige Schönheit wenigstens so leicht nicht wie ein Grieche.

Wie ein prächtiger Despot, wirft seine Bewohner der orientalische Himmelsstrich mit seiner Macht und seinem Glanze zu Boden, und, ehe der Mensch noch gehen gelernt hat, muss er knieen, eh’ er sprechen gelernt hat, muss er beten; ehe sein Herz ein Gleichgewicht hat, muss es sich neigen, und ehe der Geist noch stark genug ist, Blumen und Früchte zu tragen, ziehet Schiksaal und Natur mit brennender Hizze alle Kraft aus ihm. Der Aegyptier ist hingegeben, eh’ er ein Ganzes ist, und darum weiss er nichts vom Ganzen, nichts von Schön-

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[0152] Man konnt’ es aus einander sezen, zertheilen im Geiste, konnte das Getheilte neu zusammendenken, konnte so das Wesen des Höchsten und Besten mehr und mehr erkennen und das Erkannte zum Geseze geben in des Geistes mannigfaltigen Gebieten. Seht ihr nun, warum besonders die Athener auch ein philosophisch Volk seyn mussten? Das konnte der Aegyptier nicht. Wer mit dem Himmel und der Erde nicht in gleicher Lieb’ und Gegenliebe lebt, wer nicht in diesem Sinne einig lebt mit dem Elemente, worinn er sich regt, ist von Natur auch in sich selbst so einig nicht, und erfährt die ewige Schönheit wenigstens so leicht nicht wie ein Grieche. Wie ein prächtiger Despot, wirft seine Bewohner der orientalische Himmelsstrich mit seiner Macht und seinem Glanze zu Boden, und, ehe der Mensch noch gehen gelernt hat, muss er knieen, eh’ er sprechen gelernt hat, muss er beten; ehe sein Herz ein Gleichgewicht hat, muss es sich neigen, und ehe der Geist noch stark genug ist, Blumen und Früchte zu tragen, ziehet Schiksaal und Natur mit brennender Hizze alle Kraft aus ihm. Der Aegyptier ist hingegeben, eh’ er ein Ganzes ist, und darum weiss er nichts vom Ganzen, nichts von Schön-

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Zitationshilfe: Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Erster Band. Tübingen, 1797, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_hyperion01_1797/152>, abgerufen am 23.11.2024.