Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Erster Band. Tübingen, 1797.O Athen! rief Diotima; ich habe manchmal getrauert, wenn ich dahinaussah, und aus der blauen Dämmerung mir das Phantom des Olympion aufstieg! Wie weit ist's hinüber? fragt' ich. Eine Tagreise vieleicht, erwiederte Diotima. Eine Tagereise, rief ich, und ich war noch nicht drüben? Wir müssen gleich hinüber zusammen. Recht so! rief Diotima; wir haben morgen heitere See, und alles steht jezt noch in seiner Grüne und Reife. Man braucht die ewige Sonne und das Leben der unsterblichen Erde zu solcher Wallfahrt. Also morgen! sagt' ich, und unsre Freunde stimmten mit ein. Wir fuhren früh, unter dem Gesange des Hahns, aus der Rhede. In frischer Klarheit glänzten wir und die Welt. Goldne stille Jugend war in unsern Herzen. Das Leben in uns war, wie das Leben einer neugebornen Insel des Oceans, worauf der erste Frühling beginnt. Schon lange war unter Diotima's Einfluss mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fühlt' ich es dreifach rein, und die zerstreuten O Athen! rief Diotima; ich habe manchmal getrauert, wenn ich dahinaussah, und aus der blauen Dämmerung mir das Phantom des Olympion aufstieg! Wie weit ist’s hinüber? fragt’ ich. Eine Tagreise vieleicht, erwiederte Diotima. Eine Tagereise, rief ich, und ich war noch nicht drüben? Wir müssen gleich hinüber zusammen. Recht so! rief Diotima; wir haben morgen heitere See, und alles steht jezt noch in seiner Grüne und Reife. Man braucht die ewige Sonne und das Leben der unsterblichen Erde zu solcher Wallfahrt. Also morgen! sagt’ ich, und unsre Freunde stimmten mit ein. Wir fuhren früh, unter dem Gesange des Hahns, aus der Rhede. In frischer Klarheit glänzten wir und die Welt. Goldne stille Jugend war in unsern Herzen. Das Leben in uns war, wie das Leben einer neugebornen Insel des Oceans, worauf der erste Frühling beginnt. Schon lange war unter Diotima’s Einfluss mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fühlt’ ich es dreifach rein, und die zerstreuten <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="chapter" n="2"> <pb facs="#f0143"/> <p>O Athen! rief Diotima; ich habe manchmal getrauert, wenn ich dahinaussah, und aus der blauen Dämmerung mir das Phantom des Olympion aufstieg!</p><lb/> <p>Wie weit ist’s hinüber? fragt’ ich.</p><lb/> <p>Eine Tagreise vieleicht, erwiederte Diotima.</p><lb/> <p>Eine Tagereise, rief ich, und ich war noch nicht drüben? Wir müssen gleich hinüber zusammen.</p><lb/> <p>Recht so! rief Diotima; wir haben morgen heitere See, und alles steht jezt noch in seiner Grüne und Reife.</p><lb/> <p>Man braucht die ewige Sonne und das Leben der unsterblichen Erde zu solcher Wallfahrt.</p><lb/> <p>Also morgen! sagt’ ich, und unsre Freunde stimmten mit ein.</p><lb/> <p>Wir fuhren früh, unter dem Gesange des Hahns, aus der Rhede. In frischer Klarheit glänzten wir und die Welt. Goldne stille Jugend war in unsern Herzen. Das Leben in uns war, wie das Leben einer neugebornen Insel des Oceans, worauf der erste Frühling beginnt.</p><lb/> <p>Schon lange war unter Diotima’s Einfluss mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fühlt’ ich es dreifach rein, und die zerstreuten </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0143]
O Athen! rief Diotima; ich habe manchmal getrauert, wenn ich dahinaussah, und aus der blauen Dämmerung mir das Phantom des Olympion aufstieg!
Wie weit ist’s hinüber? fragt’ ich.
Eine Tagreise vieleicht, erwiederte Diotima.
Eine Tagereise, rief ich, und ich war noch nicht drüben? Wir müssen gleich hinüber zusammen.
Recht so! rief Diotima; wir haben morgen heitere See, und alles steht jezt noch in seiner Grüne und Reife.
Man braucht die ewige Sonne und das Leben der unsterblichen Erde zu solcher Wallfahrt.
Also morgen! sagt’ ich, und unsre Freunde stimmten mit ein.
Wir fuhren früh, unter dem Gesange des Hahns, aus der Rhede. In frischer Klarheit glänzten wir und die Welt. Goldne stille Jugend war in unsern Herzen. Das Leben in uns war, wie das Leben einer neugebornen Insel des Oceans, worauf der erste Frühling beginnt.
Schon lange war unter Diotima’s Einfluss mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fühlt’ ich es dreifach rein, und die zerstreuten
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Zitationshilfe: | Hölderlin, Friedrich: Hyperion. Erster Band. Tübingen, 1797, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoelderlin_hyperion01_1797/143>, abgerufen am 16.07.2024. |