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Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.

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Die Lesesucht ist ein thörigter, schädlicher
Mißbrauch einer sonst guten Sache, ein wirklich
großes Uebel, das so ansteckend ist, wie das gel-
be Fieber in Philadelphia; sie ist die Quelle des
sittlichen Verderbens für Kinder und Kindes
Kinder. Thorheiten und Fehler werden durch
sie in das gesellige Leben eingeführt unh darin
erhalten, nüzliche Wahrheiten entkräftet und
Jrrthümer und Vorurheile begünstigt und
vermehrt. Verstand und Herz gewinnt nichts
dabei, weil das Lesen mechanisch wird; der Geist
verwildert an statt veredelt zu werden. Man
liest ohne Zweck alles durch einander, man ge-
nießt nichts und verschlingt alles, nichts wird
geordnet, alles nur flüchtig gelesen und eben so
flüchtig vergessen, was freilich bei vielen
sehr nüzlich ist. -- Jede gute Sache kann ge-
mißbraucht werden, und jeder Mißbrauch ist
schädlich, aber der gewiß am meisten, der die
Seelenkräfte in Unordnung bringt, dessen trau-
rige Folgen unabsehbar sind, der das Glück so
vieler Menschen untergräbt, und physisches und
moralisches Elend allgemein macht. Dies alles
trift die verderbliche Lesesucht. Doch lassen Sie
mich dies in einigen Briefen weiter aus einan-
der setzen, und hier nur noch vorher bestimmen was
ich unter der Lesesucht verstehe: sie ist das Be-
streben, das Lesen zu der Hauptbeschäftigung zu

Die Leſeſucht iſt ein thoͤrigter, ſchaͤdlicher
Mißbrauch einer ſonſt guten Sache, ein wirklich
großes Uebel, das ſo anſteckend iſt, wie das gel-
be Fieber in Philadelphia; ſie iſt die Quelle des
ſittlichen Verderbens fuͤr Kinder und Kindes
Kinder. Thorheiten und Fehler werden durch
ſie in das geſellige Leben eingefuͤhrt unh darin
erhalten, nuͤzliche Wahrheiten entkraͤftet und
Jrrthuͤmer und Vorurheile beguͤnſtigt und
vermehrt. Verſtand und Herz gewinnt nichts
dabei, weil das Leſen mechaniſch wird; der Geiſt
verwildert an ſtatt veredelt zu werden. Man
lieſt ohne Zweck alles durch einander, man ge-
nießt nichts und verſchlingt alles, nichts wird
geordnet, alles nur fluͤchtig geleſen und eben ſo
fluͤchtig vergeſſen, was freilich bei vielen
ſehr nuͤzlich iſt. — Jede gute Sache kann ge-
mißbraucht werden, und jeder Mißbrauch iſt
ſchaͤdlich, aber der gewiß am meiſten, der die
Seelenkraͤfte in Unordnung bringt, deſſen trau-
rige Folgen unabſehbar ſind, der das Gluͤck ſo
vieler Menſchen untergraͤbt, und phyſiſches und
moraliſches Elend allgemein macht. Dies alles
trift die verderbliche Leſeſucht. Doch laſſen Sie
mich dies in einigen Briefen weiter aus einan-
der ſetzen, und hier nur noch vorher beſtimmen was
ich unter der Leſeſucht verſtehe: ſie iſt das Be-
ſtreben, das Leſen zu der Hauptbeſchaͤftigung zu

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[68/0068] Die Leſeſucht iſt ein thoͤrigter, ſchaͤdlicher Mißbrauch einer ſonſt guten Sache, ein wirklich großes Uebel, das ſo anſteckend iſt, wie das gel- be Fieber in Philadelphia; ſie iſt die Quelle des ſittlichen Verderbens fuͤr Kinder und Kindes Kinder. Thorheiten und Fehler werden durch ſie in das geſellige Leben eingefuͤhrt unh darin erhalten, nuͤzliche Wahrheiten entkraͤftet und Jrrthuͤmer und Vorurheile beguͤnſtigt und vermehrt. Verſtand und Herz gewinnt nichts dabei, weil das Leſen mechaniſch wird; der Geiſt verwildert an ſtatt veredelt zu werden. Man lieſt ohne Zweck alles durch einander, man ge- nießt nichts und verſchlingt alles, nichts wird geordnet, alles nur fluͤchtig geleſen und eben ſo fluͤchtig vergeſſen, was freilich bei vielen ſehr nuͤzlich iſt. — Jede gute Sache kann ge- mißbraucht werden, und jeder Mißbrauch iſt ſchaͤdlich, aber der gewiß am meiſten, der die Seelenkraͤfte in Unordnung bringt, deſſen trau- rige Folgen unabſehbar ſind, der das Gluͤck ſo vieler Menſchen untergraͤbt, und phyſiſches und moraliſches Elend allgemein macht. Dies alles trift die verderbliche Leſeſucht. Doch laſſen Sie mich dies in einigen Briefen weiter aus einan- der ſetzen, und hier nur noch vorher beſtimmen was ich unter der Leſeſucht verſtehe: ſie iſt das Be- ſtreben, das Leſen zu der Hauptbeſchaͤftigung zu

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Zitationshilfe: Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoche_lesesucht_1794/68>, abgerufen am 01.05.2024.