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Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.

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Jdeale, die schon des Namens wegen nicht
eristiren können, treten an ihre Stelle. Der
Mann im Buche ist nie das, was er in der
Welt ist, und geträumte Jdeale muß man da
suchen, wo man sie träumte. Sicher kann
man diese Jdealträumerei, wobei das junge
Mädchen vergißt wie wenig es sich selbst zum
Jdeal qualificirt -- zu den Ursachen so vieler
unglücklichen Ehen zählen, so wie zu denen, wa-
rum so viele junge Männer unverheirathet
bleiben. Wie manches Mädchen mag in dem
Suchen des Jdeals ihre Jahre vergessen, und
wie manches mag selbst die Wahl ihres Jdeals
zu spät beseufzen! Ritter der grauen Vorzeit
gibt es jetzt eben so wenig als seufzeude, em-
pfindelnde Siegwarte oder seelenkranke Wer-
ther. Diese buntschäckige Uniform hat sich
in eine anständigere, den Zeiten angemessenere
verwandelt. Man schätze uns nach wahrem
Verdienst, nach Kopf und Herz, und nicht
nach dem schönen Blüthenduft der Schmeiche-
lei, den der Nordwind in kurzer Zeit vertreibt
und Eis und Frost zurück läßt. --

Nicht blos die Damen vom ersten Stande
und Erziehung, sondern auch ihre Kammerjung-
fern, und bis zu dem niedrigern Ständen her-
unter kann man dieses Fehlers anklagen. Sie
lesen alles und verdauen nichts. Wie sehr durch
die Leserei der Trieb, aus seiner Sphäre beraus

Jdeale, die ſchon des Namens wegen nicht
eriſtiren koͤnnen, treten an ihre Stelle. Der
Mann im Buche iſt nie das, was er in der
Welt iſt, und getraͤumte Jdeale muß man da
ſuchen, wo man ſie traͤumte. Sicher kann
man dieſe Jdealtraͤumerei, wobei das junge
Maͤdchen vergißt wie wenig es ſich ſelbſt zum
Jdeal qualificirt — zu den Urſachen ſo vieler
ungluͤcklichen Ehen zaͤhlen, ſo wie zu denen, wa-
rum ſo viele junge Maͤnner unverheirathet
bleiben. Wie manches Maͤdchen mag in dem
Suchen des Jdeals ihre Jahre vergeſſen, und
wie manches mag ſelbſt die Wahl ihres Jdeals
zu ſpaͤt beſeufzen! Ritter der grauen Vorzeit
gibt es jetzt eben ſo wenig als ſeufzeude, em-
pfindelnde Siegwarte oder ſeelenkranke Wer-
ther. Dieſe buntſchaͤckige Uniform hat ſich
in eine anſtaͤndigere, den Zeiten angemeſſenere
verwandelt. Man ſchaͤtze uns nach wahrem
Verdienſt, nach Kopf und Herz, und nicht
nach dem ſchoͤnen Bluͤthenduft der Schmeiche-
lei, den der Nordwind in kurzer Zeit vertreibt
und Eis und Froſt zuruͤck laͤßt. —

Nicht blos die Damen vom erſten Stande
und Erziehung, ſondern auch ihre Kammerjung-
fern, und bis zu dem niedrigern Staͤnden her-
unter kann man dieſes Fehlers anklagen. Sie
leſen alles und verdauen nichts. Wie ſehr durch
die Leſerei der Trieb, aus ſeiner Sphaͤre beraus

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[138/0138] Jdeale, die ſchon des Namens wegen nicht eriſtiren koͤnnen, treten an ihre Stelle. Der Mann im Buche iſt nie das, was er in der Welt iſt, und getraͤumte Jdeale muß man da ſuchen, wo man ſie traͤumte. Sicher kann man dieſe Jdealtraͤumerei, wobei das junge Maͤdchen vergißt wie wenig es ſich ſelbſt zum Jdeal qualificirt — zu den Urſachen ſo vieler ungluͤcklichen Ehen zaͤhlen, ſo wie zu denen, wa- rum ſo viele junge Maͤnner unverheirathet bleiben. Wie manches Maͤdchen mag in dem Suchen des Jdeals ihre Jahre vergeſſen, und wie manches mag ſelbſt die Wahl ihres Jdeals zu ſpaͤt beſeufzen! Ritter der grauen Vorzeit gibt es jetzt eben ſo wenig als ſeufzeude, em- pfindelnde Siegwarte oder ſeelenkranke Wer- ther. Dieſe buntſchaͤckige Uniform hat ſich in eine anſtaͤndigere, den Zeiten angemeſſenere verwandelt. Man ſchaͤtze uns nach wahrem Verdienſt, nach Kopf und Herz, und nicht nach dem ſchoͤnen Bluͤthenduft der Schmeiche- lei, den der Nordwind in kurzer Zeit vertreibt und Eis und Froſt zuruͤck laͤßt. — Nicht blos die Damen vom erſten Stande und Erziehung, ſondern auch ihre Kammerjung- fern, und bis zu dem niedrigern Staͤnden her- unter kann man dieſes Fehlers anklagen. Sie leſen alles und verdauen nichts. Wie ſehr durch die Leſerei der Trieb, aus ſeiner Sphaͤre beraus

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Zitationshilfe: Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoche_lesesucht_1794/138>, abgerufen am 03.05.2024.