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Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794.

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so fällt auch dadurch das Hauptinteresse des
Mittleids weg. Es verwandelt sich in Gleich-
gültigkeit. Diese muß aus der Charakteristik
der meisten Spektakelstücke und Rittermähren
u. s. w. entstehen, denn die Personen erschei-
nen darin | selten so unschuldig, daß ihre Un-
schuld ein lebhaftes Jnteresse hervorbringen
könnte. So verliert denn auch der edle Trieb
des Mitleids, das gewöhnlich nur Folge der
Organisation, und selten der Vernunft ist, wie
Roußeau richtig sagt, seine Kraft. Predigt
immer Menschenliebe |so viel ihr wollt ihr
werdet nichts ausrichten, sie gründet sich auf
Mitleid und nicht auf Räsonnemennt, dies
kann allenfalls den natürlichen Trieb verstär-
ken, dem Gebrauch desselben den Namen |der
Pflicht geben, aber weiter nichts; denn es ver-
mag nicht eine verstimmte Organisation wieder
rein zu stimmen. Verstimmt nicht die Einbil-
dungskraft, lenkt uicht den natürlichen Trieb
auf fremde Gegenstände und ihr werdet die
Menschen glücklicher machen. Wir schenken
schon hinlänglich unser Mitleid dem, der es
nicht verdient, und entziehen es dem der es
verdient, der aber nicht das Glück hat unserm
Jdeale zu entsprechen. Tugend kann nur rechte
Tugend seyn, wenn sie frei von Eigeunutz auf
den rechten Gegenstand gerichtet ist. --

ſo faͤllt auch dadurch das Hauptintereſſe des
Mittleids weg. Es verwandelt ſich in Gleich-
guͤltigkeit. Dieſe muß aus der Charakteriſtik
der meiſten Spektakelſtuͤcke und Rittermaͤhren
u. ſ. w. entſtehen, denn die Perſonen erſchei-
nen darin | ſelten ſo unſchuldig, daß ihre Un-
ſchuld ein lebhaftes Jntereſſe hervorbringen
koͤnnte. So verliert denn auch der edle Trieb
des Mitleids, das gewoͤhnlich nur Folge der
Organiſation, und ſelten der Vernunft iſt, wie
Roußeau richtig ſagt, ſeine Kraft. Predigt
immer Menſchenliebe |ſo viel ihr wollt ihr
werdet nichts ausrichten, ſie gruͤndet ſich auf
Mitleid und nicht auf Raͤſonnemennt, dies
kann allenfalls den natuͤrlichen Trieb verſtaͤr-
ken, dem Gebrauch deſſelben den Namen |der
Pflicht geben, aber weiter nichts; denn es ver-
mag nicht eine verſtimmte Organiſation wieder
rein zu ſtimmen. Verſtimmt nicht die Einbil-
dungskraft, lenkt uicht den natuͤrlichen Trieb
auf fremde Gegenſtaͤnde und ihr werdet die
Menſchen gluͤcklicher machen. Wir ſchenken
ſchon hinlaͤnglich unſer Mitleid dem, der es
nicht verdient, und entziehen es dem der es
verdient, der aber nicht das Gluͤck hat unſerm
Jdeale zu entſprechen. Tugend kann nur rechte
Tugend ſeyn, wenn ſie frei von Eigeunutz auf
den rechten Gegenſtand gerichtet iſt. —

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[136/0136] ſo faͤllt auch dadurch das Hauptintereſſe des Mittleids weg. Es verwandelt ſich in Gleich- guͤltigkeit. Dieſe muß aus der Charakteriſtik der meiſten Spektakelſtuͤcke und Rittermaͤhren u. ſ. w. entſtehen, denn die Perſonen erſchei- nen darin | ſelten ſo unſchuldig, daß ihre Un- ſchuld ein lebhaftes Jntereſſe hervorbringen koͤnnte. So verliert denn auch der edle Trieb des Mitleids, das gewoͤhnlich nur Folge der Organiſation, und ſelten der Vernunft iſt, wie Roußeau richtig ſagt, ſeine Kraft. Predigt immer Menſchenliebe |ſo viel ihr wollt ihr werdet nichts ausrichten, ſie gruͤndet ſich auf Mitleid und nicht auf Raͤſonnemennt, dies kann allenfalls den natuͤrlichen Trieb verſtaͤr- ken, dem Gebrauch deſſelben den Namen |der Pflicht geben, aber weiter nichts; denn es ver- mag nicht eine verſtimmte Organiſation wieder rein zu ſtimmen. Verſtimmt nicht die Einbil- dungskraft, lenkt uicht den natuͤrlichen Trieb auf fremde Gegenſtaͤnde und ihr werdet die Menſchen gluͤcklicher machen. Wir ſchenken ſchon hinlaͤnglich unſer Mitleid dem, der es nicht verdient, und entziehen es dem der es verdient, der aber nicht das Gluͤck hat unſerm Jdeale zu entſprechen. Tugend kann nur rechte Tugend ſeyn, wenn ſie frei von Eigeunutz auf den rechten Gegenſtand gerichtet iſt. —

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Zitationshilfe: Johann Gottfried, Hoche: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht. Hannover, 1794, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoche_lesesucht_1794/136>, abgerufen am 27.11.2024.