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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779.

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lassen, und eben diese Regel beobachtet man, so viel möglich, in allen übrigen An-
ordnungen.

Obgleich die Chineser nicht sehr geschickt in der Optik sind, so hat die Erfah-
rung sie doch gelehrt, daß die scheinbare Größe der Gegenstände abnimmt, und daß
die Farben schwächer werden, in dem Maaße, worin sie sich von dem Auge des An-
schauers entfernen. Diese Beobachtungen haben Anlaß zu einem Kunststücke gege-
ben, das sie bisweilen anbringen. Sie legen nämlich perspectivische Aussichten an,
durch Bäume, Schiffe und andere Gegenstände, die nach dem Verhältniß ihrer Ent-
fernung von dem Gesichtspunkt immer kleiner werden. Um die Täuschung noch auf-
fallender zu machen, geben sie den entfernten Theilen der Zusammensetzung gräuliche
Tinten, und bepflanzen den Hintergrund mit Bäumen von einer weniger lebhaften
Farbe und einer geringern Höhe, als die voranstehenden haben. Auf diese Weise wird
das, was an sich eingeschränkt und wenig erheblich ist, dem Anscheine nach groß und
ausgebreitet.

Gemeiniglich vermeiden die Chineser die geraden Linien; aber sie verwerfen
nicht immer ihren Gebrauch. Sie machen oft gerade Zugänge, wenn sie einen in-
teressanten Gegenstand sehen lassen wollen. Die Wege sind alsdenn beständig in ei-
ner geraden Linie angelegt, wenn nicht die Ungleichheit des Bodens oder ein anderes
Hinderniß wenigstens einen gewissen Vorwand anbietet, davon abzugehen. Ist der
Boden durchgängig eben, so würden sie es für abgeschmackt halten, einen geschlängel-
ten Weg anzulegen. In einem oder dem andern Fall läßt sich natürlicher Weise
nicht voraussetzen, daß man die krumme Linie wählen würde, wenn man geradezu
gehen kann.

Was die Engländer Klumps nennen, Gruppen von Bäumen, ist den Chi-
nesern
nicht unbekannt; aber sie bringen sie nicht so oft an. Niemals dürfen sie den
ganzen Platz einnehmen; ihre Gärtner betrachten einen Garten, wie unsere Maler
ein Gemälde: die ersten gruppiren ihre Bäume auf eben die Art, wie die letztern ihre
Figuren; beyde haben ihre Hauptmassen und ihre untergeordneten Massen.

So weit Chambers in der ersten Beschreibung. Die andere enthält theils
eine Erweiterung mit Wiederholungen, theils verschiedene neue Zusätze, von welchen
letztern wir uns hier nur auf die wichtigern einschränken.

Die Chineser, fährt Chambers fort, wählen zwar die Natur zum Muster,
allein sie binden sich doch nicht so genau an dieselbe, daß sie allen Schein von Kunst
vermeiden sollten. Die Kunst muß die Unzulänglichkeit der Natur ersetzen, und
nicht allein angewendet werden, Mannigfaltigkeit hervorzubringen, sondern auch Neu-
heit und Rührung; denn einfache Anordnungen der Natur trifft man auf allen Fel-

dern

der Alten und der Neuen.
laſſen, und eben dieſe Regel beobachtet man, ſo viel moͤglich, in allen uͤbrigen An-
ordnungen.

Obgleich die Chineſer nicht ſehr geſchickt in der Optik ſind, ſo hat die Erfah-
rung ſie doch gelehrt, daß die ſcheinbare Groͤße der Gegenſtaͤnde abnimmt, und daß
die Farben ſchwaͤcher werden, in dem Maaße, worin ſie ſich von dem Auge des An-
ſchauers entfernen. Dieſe Beobachtungen haben Anlaß zu einem Kunſtſtuͤcke gege-
ben, das ſie bisweilen anbringen. Sie legen naͤmlich perſpectiviſche Ausſichten an,
durch Baͤume, Schiffe und andere Gegenſtaͤnde, die nach dem Verhaͤltniß ihrer Ent-
fernung von dem Geſichtspunkt immer kleiner werden. Um die Taͤuſchung noch auf-
fallender zu machen, geben ſie den entfernten Theilen der Zuſammenſetzung graͤuliche
Tinten, und bepflanzen den Hintergrund mit Baͤumen von einer weniger lebhaften
Farbe und einer geringern Hoͤhe, als die voranſtehenden haben. Auf dieſe Weiſe wird
das, was an ſich eingeſchraͤnkt und wenig erheblich iſt, dem Anſcheine nach groß und
ausgebreitet.

Gemeiniglich vermeiden die Chineſer die geraden Linien; aber ſie verwerfen
nicht immer ihren Gebrauch. Sie machen oft gerade Zugaͤnge, wenn ſie einen in-
tereſſanten Gegenſtand ſehen laſſen wollen. Die Wege ſind alsdenn beſtaͤndig in ei-
ner geraden Linie angelegt, wenn nicht die Ungleichheit des Bodens oder ein anderes
Hinderniß wenigſtens einen gewiſſen Vorwand anbietet, davon abzugehen. Iſt der
Boden durchgaͤngig eben, ſo wuͤrden ſie es fuͤr abgeſchmackt halten, einen geſchlaͤngel-
ten Weg anzulegen. In einem oder dem andern Fall laͤßt ſich natuͤrlicher Weiſe
nicht vorausſetzen, daß man die krumme Linie waͤhlen wuͤrde, wenn man geradezu
gehen kann.

Was die Englaͤnder Klumps nennen, Gruppen von Baͤumen, iſt den Chi-
neſern
nicht unbekannt; aber ſie bringen ſie nicht ſo oft an. Niemals duͤrfen ſie den
ganzen Platz einnehmen; ihre Gaͤrtner betrachten einen Garten, wie unſere Maler
ein Gemaͤlde: die erſten gruppiren ihre Baͤume auf eben die Art, wie die letztern ihre
Figuren; beyde haben ihre Hauptmaſſen und ihre untergeordneten Maſſen.

So weit Chambers in der erſten Beſchreibung. Die andere enthaͤlt theils
eine Erweiterung mit Wiederholungen, theils verſchiedene neue Zuſaͤtze, von welchen
letztern wir uns hier nur auf die wichtigern einſchraͤnken.

Die Chineſer, faͤhrt Chambers fort, waͤhlen zwar die Natur zum Muſter,
allein ſie binden ſich doch nicht ſo genau an dieſelbe, daß ſie allen Schein von Kunſt
vermeiden ſollten. Die Kunſt muß die Unzulaͤnglichkeit der Natur erſetzen, und
nicht allein angewendet werden, Mannigfaltigkeit hervorzubringen, ſondern auch Neu-
heit und Ruͤhrung; denn einfache Anordnungen der Natur trifft man auf allen Fel-

dern
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[87/0101] der Alten und der Neuen. laſſen, und eben dieſe Regel beobachtet man, ſo viel moͤglich, in allen uͤbrigen An- ordnungen. Obgleich die Chineſer nicht ſehr geſchickt in der Optik ſind, ſo hat die Erfah- rung ſie doch gelehrt, daß die ſcheinbare Groͤße der Gegenſtaͤnde abnimmt, und daß die Farben ſchwaͤcher werden, in dem Maaße, worin ſie ſich von dem Auge des An- ſchauers entfernen. Dieſe Beobachtungen haben Anlaß zu einem Kunſtſtuͤcke gege- ben, das ſie bisweilen anbringen. Sie legen naͤmlich perſpectiviſche Ausſichten an, durch Baͤume, Schiffe und andere Gegenſtaͤnde, die nach dem Verhaͤltniß ihrer Ent- fernung von dem Geſichtspunkt immer kleiner werden. Um die Taͤuſchung noch auf- fallender zu machen, geben ſie den entfernten Theilen der Zuſammenſetzung graͤuliche Tinten, und bepflanzen den Hintergrund mit Baͤumen von einer weniger lebhaften Farbe und einer geringern Hoͤhe, als die voranſtehenden haben. Auf dieſe Weiſe wird das, was an ſich eingeſchraͤnkt und wenig erheblich iſt, dem Anſcheine nach groß und ausgebreitet. Gemeiniglich vermeiden die Chineſer die geraden Linien; aber ſie verwerfen nicht immer ihren Gebrauch. Sie machen oft gerade Zugaͤnge, wenn ſie einen in- tereſſanten Gegenſtand ſehen laſſen wollen. Die Wege ſind alsdenn beſtaͤndig in ei- ner geraden Linie angelegt, wenn nicht die Ungleichheit des Bodens oder ein anderes Hinderniß wenigſtens einen gewiſſen Vorwand anbietet, davon abzugehen. Iſt der Boden durchgaͤngig eben, ſo wuͤrden ſie es fuͤr abgeſchmackt halten, einen geſchlaͤngel- ten Weg anzulegen. In einem oder dem andern Fall laͤßt ſich natuͤrlicher Weiſe nicht vorausſetzen, daß man die krumme Linie waͤhlen wuͤrde, wenn man geradezu gehen kann. Was die Englaͤnder Klumps nennen, Gruppen von Baͤumen, iſt den Chi- neſern nicht unbekannt; aber ſie bringen ſie nicht ſo oft an. Niemals duͤrfen ſie den ganzen Platz einnehmen; ihre Gaͤrtner betrachten einen Garten, wie unſere Maler ein Gemaͤlde: die erſten gruppiren ihre Baͤume auf eben die Art, wie die letztern ihre Figuren; beyde haben ihre Hauptmaſſen und ihre untergeordneten Maſſen. So weit Chambers in der erſten Beſchreibung. Die andere enthaͤlt theils eine Erweiterung mit Wiederholungen, theils verſchiedene neue Zuſaͤtze, von welchen letztern wir uns hier nur auf die wichtigern einſchraͤnken. Die Chineſer, faͤhrt Chambers fort, waͤhlen zwar die Natur zum Muſter, allein ſie binden ſich doch nicht ſo genau an dieſelbe, daß ſie allen Schein von Kunſt vermeiden ſollten. Die Kunſt muß die Unzulaͤnglichkeit der Natur erſetzen, und nicht allein angewendet werden, Mannigfaltigkeit hervorzubringen, ſondern auch Neu- heit und Ruͤhrung; denn einfache Anordnungen der Natur trifft man auf allen Fel- dern

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 1. Leipzig, 1779, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst1_1779/101>, abgerufen am 28.03.2024.