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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781.

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eines Planeten. Wer kann in die Sonne se-
hen! sagte sie. Der Mond hat so was mensch-
liches. Laß sie, die Hochweisen Herren, nur
immerhin behaupten, fuhr sie fort, den Baum
des Erkenntnisses gutes und böses schon in
dieser Welt gefunden zu haben; es ist wahr-
lich eine Schlange, die sie verleitete. Die
Regeln können zwar schlechte Dichter vom
Parnaß, oder beßer vom Sinai, zurück hal-
ten, haben sie aber je einen gemacht? Die
Weisheit dieser Welt, was ist sie beym Licht
der reinen Wahrheit? Werdet wie die Kin-
der. Wenn andere lehren: ziehet die Kinder-
schue aus, lehrt uns wahre Weisheit: ziehet
sie an -- und noch bis jezt, fuhr meine Mut-
ter fort, hab' ich mich beym lieben Mond und
bey den Kinderschuen wohl befunden. Was
sie über ihr Herz bringen konnte, das konnte
sie auch mit der Vernunft räumen. Das
Herz spielt auch würklich weniger Streiche,
als die Vernunft. Die Vernunft ist eine Ge-
meinuhr, jeder schiebt ihren Zeiger; das Herz
trag ich bey mir. Je weniger der Mensch der
Vernunft und dem Schicksal Blößen über
sich giebt; je unüberwindlicher, je stärker ist
er. Wenn ich schwach bin, bin ich stark,
konnte meine Mutter sagen. Ihr Portrait

war

eines Planeten. Wer kann in die Sonne ſe-
hen! ſagte ſie. Der Mond hat ſo was menſch-
liches. Laß ſie, die Hochweiſen Herren, nur
immerhin behaupten, fuhr ſie fort, den Baum
des Erkenntniſſes gutes und boͤſes ſchon in
dieſer Welt gefunden zu haben; es iſt wahr-
lich eine Schlange, die ſie verleitete. Die
Regeln koͤnnen zwar ſchlechte Dichter vom
Parnaß, oder beßer vom Sinai, zuruͤck hal-
ten, haben ſie aber je einen gemacht? Die
Weisheit dieſer Welt, was iſt ſie beym Licht
der reinen Wahrheit? Werdet wie die Kin-
der. Wenn andere lehren: ziehet die Kinder-
ſchue aus, lehrt uns wahre Weisheit: ziehet
ſie an — und noch bis jezt, fuhr meine Mut-
ter fort, hab’ ich mich beym lieben Mond und
bey den Kinderſchuen wohl befunden. Was
ſie uͤber ihr Herz bringen konnte, das konnte
ſie auch mit der Vernunft raͤumen. Das
Herz ſpielt auch wuͤrklich weniger Streiche,
als die Vernunft. Die Vernunft iſt eine Ge-
meinuhr, jeder ſchiebt ihren Zeiger; das Herz
trag ich bey mir. Je weniger der Menſch der
Vernunft und dem Schickſal Bloͤßen uͤber
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[68/0074] eines Planeten. Wer kann in die Sonne ſe- hen! ſagte ſie. Der Mond hat ſo was menſch- liches. Laß ſie, die Hochweiſen Herren, nur immerhin behaupten, fuhr ſie fort, den Baum des Erkenntniſſes gutes und boͤſes ſchon in dieſer Welt gefunden zu haben; es iſt wahr- lich eine Schlange, die ſie verleitete. Die Regeln koͤnnen zwar ſchlechte Dichter vom Parnaß, oder beßer vom Sinai, zuruͤck hal- ten, haben ſie aber je einen gemacht? Die Weisheit dieſer Welt, was iſt ſie beym Licht der reinen Wahrheit? Werdet wie die Kin- der. Wenn andere lehren: ziehet die Kinder- ſchue aus, lehrt uns wahre Weisheit: ziehet ſie an — und noch bis jezt, fuhr meine Mut- ter fort, hab’ ich mich beym lieben Mond und bey den Kinderſchuen wohl befunden. Was ſie uͤber ihr Herz bringen konnte, das konnte ſie auch mit der Vernunft raͤumen. Das Herz ſpielt auch wuͤrklich weniger Streiche, als die Vernunft. Die Vernunft iſt eine Ge- meinuhr, jeder ſchiebt ihren Zeiger; das Herz trag ich bey mir. Je weniger der Menſch der Vernunft und dem Schickſal Bloͤßen uͤber ſich giebt; je unuͤberwindlicher, je ſtaͤrker iſt er. Wenn ich ſchwach bin, bin ich ſtark, konnte meine Mutter ſagen. Ihr Portrait war

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/74>, abgerufen am 07.05.2024.