Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Großen? Sie lebt so in bedrückter Kirche,
daß man von ihr behaupten könnte, sie woh-
ne in Höhlen, in Klüften, und doch darf man
von ihr nicht fürchten, daß sie so ausarten
würde, als die christliche Kirche, da sie ins
Große gieng, ausgeartet ist. Die Ausartung
der Vernunft wäre Unvernunft --

Fast könnte man behaupten, daß die Men-
schen, nachdem sie vielleicht durch ein Unge-
fehr zusammengebracht waren, auf die Ver-
nunft gekommen, so wie man auf etwas
kommt. Gott hat es ihnen offenbaret. Es
waren vielleicht erst positive Gesetze, ehe man
an natürliche dachte. Der Grund der positi-
ven Gesetze, wenn sie anders den Namen von
Gesetzen verdienen sollen, ist so gut die Ver-
nunft, als sie der Grund der natürlichen ist.
Die Rechtslehrer machen einen Unterschied,
zwischen positiven, natürlichen und gemisch-
ten Gesetzen. Jedes Gesetz muß natürlich,
oder, welches fast dasselbe ist, vernünftig seyn,
so auch jede Offenbarung. Das Christenthum
ist eine vernünftige lautere Milch. Was ver-
nünftigen Menschen Regeln vorzeichnen will,
muß, dünkt mich, selbst vernünftig seyn. Es
muß sie überzeugen. Zwar leugne ich nicht,
daß der Staat Anordnungen treffen könne,

die

Großen? Sie lebt ſo in bedruͤckter Kirche,
daß man von ihr behaupten koͤnnte, ſie woh-
ne in Hoͤhlen, in Kluͤften, und doch darf man
von ihr nicht fuͤrchten, daß ſie ſo ausarten
wuͤrde, als die chriſtliche Kirche, da ſie ins
Große gieng, ausgeartet iſt. Die Ausartung
der Vernunft waͤre Unvernunft —

Faſt koͤnnte man behaupten, daß die Men-
ſchen, nachdem ſie vielleicht durch ein Unge-
fehr zuſammengebracht waren, auf die Ver-
nunft gekommen, ſo wie man auf etwas
kommt. Gott hat es ihnen offenbaret. Es
waren vielleicht erſt poſitive Geſetze, ehe man
an natuͤrliche dachte. Der Grund der poſiti-
ven Geſetze, wenn ſie anders den Namen von
Geſetzen verdienen ſollen, iſt ſo gut die Ver-
nunft, als ſie der Grund der natuͤrlichen iſt.
Die Rechtslehrer machen einen Unterſchied,
zwiſchen poſitiven, natuͤrlichen und gemiſch-
ten Geſetzen. Jedes Geſetz muß natuͤrlich,
oder, welches faſt daſſelbe iſt, vernuͤnftig ſeyn,
ſo auch jede Offenbarung. Das Chriſtenthum
iſt eine vernuͤnftige lautere Milch. Was ver-
nuͤnftigen Menſchen Regeln vorzeichnen will,
muß, duͤnkt mich, ſelbſt vernuͤnftig ſeyn. Es
muß ſie uͤberzeugen. Zwar leugne ich nicht,
daß der Staat Anordnungen treffen koͤnne,

die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0196" n="190"/>
Großen? Sie lebt &#x017F;o in bedru&#x0364;ckter Kirche,<lb/>
daß man von ihr behaupten ko&#x0364;nnte, &#x017F;ie woh-<lb/>
ne in Ho&#x0364;hlen, in Klu&#x0364;ften, und doch darf man<lb/>
von ihr nicht fu&#x0364;rchten, daß &#x017F;ie &#x017F;o ausarten<lb/>
wu&#x0364;rde, als die chri&#x017F;tliche Kirche, da &#x017F;ie ins<lb/>
Große gieng, ausgeartet i&#x017F;t. Die Ausartung<lb/>
der Vernunft wa&#x0364;re Unvernunft &#x2014;</p><lb/>
        <p>Fa&#x017F;t ko&#x0364;nnte man behaupten, daß die Men-<lb/>
&#x017F;chen, nachdem &#x017F;ie vielleicht durch ein Unge-<lb/>
fehr zu&#x017F;ammengebracht waren, auf die Ver-<lb/>
nunft gekommen, &#x017F;o wie man auf etwas<lb/>
kommt. Gott hat es ihnen offenbaret. Es<lb/>
waren vielleicht er&#x017F;t po&#x017F;itive Ge&#x017F;etze, ehe man<lb/>
an natu&#x0364;rliche dachte. Der Grund der po&#x017F;iti-<lb/>
ven Ge&#x017F;etze, wenn &#x017F;ie anders den Namen von<lb/>
Ge&#x017F;etzen verdienen &#x017F;ollen, i&#x017F;t &#x017F;o gut die Ver-<lb/>
nunft, als &#x017F;ie der Grund der natu&#x0364;rlichen i&#x017F;t.<lb/>
Die Rechtslehrer machen einen Unter&#x017F;chied,<lb/>
zwi&#x017F;chen po&#x017F;itiven, natu&#x0364;rlichen und gemi&#x017F;ch-<lb/>
ten Ge&#x017F;etzen. Jedes Ge&#x017F;etz muß natu&#x0364;rlich,<lb/>
oder, welches fa&#x017F;t da&#x017F;&#x017F;elbe i&#x017F;t, vernu&#x0364;nftig &#x017F;eyn,<lb/>
&#x017F;o auch jede Offenbarung. Das Chri&#x017F;tenthum<lb/>
i&#x017F;t eine vernu&#x0364;nftige lautere Milch. Was ver-<lb/>
nu&#x0364;nftigen Men&#x017F;chen Regeln vorzeichnen will,<lb/>
muß, du&#x0364;nkt mich, &#x017F;elb&#x017F;t vernu&#x0364;nftig &#x017F;eyn. Es<lb/>
muß &#x017F;ie u&#x0364;berzeugen. Zwar leugne ich nicht,<lb/>
daß der Staat Anordnungen treffen ko&#x0364;nne,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[190/0196] Großen? Sie lebt ſo in bedruͤckter Kirche, daß man von ihr behaupten koͤnnte, ſie woh- ne in Hoͤhlen, in Kluͤften, und doch darf man von ihr nicht fuͤrchten, daß ſie ſo ausarten wuͤrde, als die chriſtliche Kirche, da ſie ins Große gieng, ausgeartet iſt. Die Ausartung der Vernunft waͤre Unvernunft — Faſt koͤnnte man behaupten, daß die Men- ſchen, nachdem ſie vielleicht durch ein Unge- fehr zuſammengebracht waren, auf die Ver- nunft gekommen, ſo wie man auf etwas kommt. Gott hat es ihnen offenbaret. Es waren vielleicht erſt poſitive Geſetze, ehe man an natuͤrliche dachte. Der Grund der poſiti- ven Geſetze, wenn ſie anders den Namen von Geſetzen verdienen ſollen, iſt ſo gut die Ver- nunft, als ſie der Grund der natuͤrlichen iſt. Die Rechtslehrer machen einen Unterſchied, zwiſchen poſitiven, natuͤrlichen und gemiſch- ten Geſetzen. Jedes Geſetz muß natuͤrlich, oder, welches faſt daſſelbe iſt, vernuͤnftig ſeyn, ſo auch jede Offenbarung. Das Chriſtenthum iſt eine vernuͤnftige lautere Milch. Was ver- nuͤnftigen Menſchen Regeln vorzeichnen will, muß, duͤnkt mich, ſelbſt vernuͤnftig ſeyn. Es muß ſie uͤberzeugen. Zwar leugne ich nicht, daß der Staat Anordnungen treffen koͤnne, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/196
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,2. Berlin, 1781, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0302_1781/196>, abgerufen am 01.05.2024.