Die Mutter war älter, das Leben hatte sich mehr angeklammert, und der Tod muste stark reißen, eh' er seinen Zweck erriß Der Mut- ter Sarg stand schon längst bey dem Sarg ihrer Tochter, noch eh die Mutter selbst drinn war. Was das für ein Leichenzug war! Sie wolten still begraben seyn; allein alles im Städtchen, was gehen konnte, gieng den Sär- gern nach. Es waren allen und jeden Wegwei- ser zur ewigen Ruhe! Die Taglöhner verdun- gen sich nur auf den halben Tag, um dieses Begräbniß zu sehen. Der Pastor weinte. Er war außer den Dreyen der vierte, der An- nens Fall wuste! Die Engel fielen und wur- den Teufel; allein Anne blieb, was sie war, im priesterlichen Auge. Der Pastor weinte: denn er hatte kein Engelbild mehr in seiner Ge- meine. Er wuste nicht, wie er die Engelgestalt deutlich machen würde, da er Annen nicht mehr sehen konnte -- ich werde sie bald sehen, fieng er prophetisch an mit entzückten Muthe, drückte sich den Hut in die Augen, und gieng so, als ob er den Tod ausfordern wolte. Der gute Pastor! Er wolt' ein Erbauungswort bey dem Grabe dieser beyden Seligen verbreiten, doch, das konnt' er nicht! Annens Gesicht, das ihm noch zu lebhaft vor den Augen schwebte,
störte
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Die Mutter war aͤlter, das Leben hatte ſich mehr angeklammert, und der Tod muſte ſtark reißen, eh’ er ſeinen Zweck erriß Der Mut- ter Sarg ſtand ſchon laͤngſt bey dem Sarg ihrer Tochter, noch eh die Mutter ſelbſt drinn war. Was das fuͤr ein Leichenzug war! Sie wolten ſtill begraben ſeyn; allein alles im Staͤdtchen, was gehen konnte, gieng den Saͤr- gern nach. Es waren allen und jeden Wegwei- ſer zur ewigen Ruhe! Die Tagloͤhner verdun- gen ſich nur auf den halben Tag, um dieſes Begraͤbniß zu ſehen. Der Paſtor weinte. Er war außer den Dreyen der vierte, der An- nens Fall wuſte! Die Engel fielen und wur- den Teufel; allein Anne blieb, was ſie war, im prieſterlichen Auge. Der Paſtor weinte: denn er hatte kein Engelbild mehr in ſeiner Ge- meine. Er wuſte nicht, wie er die Engelgeſtalt deutlich machen wuͤrde, da er Annen nicht mehr ſehen konnte — ich werde ſie bald ſehen, fieng er prophetiſch an mit entzuͤckten Muthe, druͤckte ſich den Hut in die Augen, und gieng ſo, als ob er den Tod ausfordern wolte. Der gute Paſtor! Er wolt’ ein Erbauungswort bey dem Grabe dieſer beyden Seligen verbreiten, doch, das konnt’ er nicht! Annens Geſicht, das ihm noch zu lebhaft vor den Augen ſchwebte,
ſtoͤrte
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Die Mutter war aͤlter, das Leben hatte ſich
mehr angeklammert, und der Tod muſte ſtark
reißen, eh’ er ſeinen Zweck erriß Der Mut-
ter Sarg ſtand ſchon laͤngſt bey dem Sarg
ihrer Tochter, noch eh die Mutter ſelbſt drinn
war. Was das fuͤr ein Leichenzug war! Sie
wolten ſtill begraben ſeyn; allein alles im
Staͤdtchen, was gehen konnte, gieng den Saͤr-
gern nach. Es waren allen und jeden Wegwei-
ſer zur ewigen Ruhe! Die Tagloͤhner verdun-
gen ſich nur auf den halben Tag, um dieſes
Begraͤbniß zu ſehen. Der Paſtor weinte. Er
war außer den Dreyen der vierte, der An-
nens Fall wuſte! Die Engel fielen und wur-
den Teufel; allein Anne blieb, was ſie war,
im prieſterlichen Auge. Der Paſtor weinte:
denn er hatte kein Engelbild mehr in ſeiner Ge-
meine. Er wuſte nicht, wie er die Engelgeſtalt
deutlich machen wuͤrde, da er Annen nicht
mehr ſehen konnte — ich werde ſie bald ſehen,
fieng er prophetiſch an mit entzuͤckten Muthe,
druͤckte ſich den Hut in die Augen, und gieng
ſo, als ob er den Tod ausfordern wolte. Der
gute Paſtor! Er wolt’ ein Erbauungswort bey
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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 611. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/623>, abgerufen am 24.11.2024.
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