Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

kannst du auf mein Wort zu Zeugen rufen.
Erhabener Todter! Man achtet das Leben
nicht, wenn man dich siehet! O möchtest du
nicht verwesen! Du soltest ewig dazu dienen,
den Furchtsamen zu steifen, und jeden zu leh-
ren, daß nicht jeder auf gleiche Weise todt sey.
Dir sieht man es an, daß du nicht aufhören
kannst, daß du nicht aufgehöret hast. Es
stirbt nicht jeder auf gleiche Weise, es lebt
nicht jeder auf gleiche Art. Stiller Mond,
dies große Grab empfehl' ich dir! Du siehst
viel, was die Sonne nicht sieht, du bist ein
Sonntagskind und kannst Gesichter sehen,
die sonst niemand zu sehen versteht. Du siehst
fromme Geister, wenn sie um die Gräber der
Ihrigen wanken, die sie noch nicht in dem wei-
ten Himmel aufgefunden haben, Du siehst,
wenn sie sich von ungefehr treffen; und wenn
sie den himmlischen Bund machen "wir lassen
uns nicht in Ewigkeit." -- Du siehst erkennt-
liche Geister, die ihren Ueberrest, ihren ver-
wesenden Körper, besuchen; die Stück vor
Stück von ihm Abschied nehmen, und ihn
bedauren, daß er Körper war und daß er ge-
storben ist. Rührend muß es dir seyn, lie-
ber Mond, rührend, so was zu sehen, wenn
Geist und Leib sich zusammen finden, und sich

nicht
O o 5

kannſt du auf mein Wort zu Zeugen rufen.
Erhabener Todter! Man achtet das Leben
nicht, wenn man dich ſiehet! O moͤchteſt du
nicht verweſen! Du ſolteſt ewig dazu dienen,
den Furchtſamen zu ſteifen, und jeden zu leh-
ren, daß nicht jeder auf gleiche Weiſe todt ſey.
Dir ſieht man es an, daß du nicht aufhoͤren
kannſt, daß du nicht aufgehoͤret haſt. Es
ſtirbt nicht jeder auf gleiche Weiſe, es lebt
nicht jeder auf gleiche Art. Stiller Mond,
dies große Grab empfehl’ ich dir! Du ſiehſt
viel, was die Sonne nicht ſieht, du biſt ein
Sonntagskind und kannſt Geſichter ſehen,
die ſonſt niemand zu ſehen verſteht. Du ſiehſt
fromme Geiſter, wenn ſie um die Graͤber der
Ihrigen wanken, die ſie noch nicht in dem wei-
ten Himmel aufgefunden haben, Du ſiehſt,
wenn ſie ſich von ungefehr treffen; und wenn
ſie den himmliſchen Bund machen „wir laſſen
uns nicht in Ewigkeit.“ — Du ſiehſt erkennt-
liche Geiſter, die ihren Ueberreſt, ihren ver-
weſenden Koͤrper, beſuchen; die Stuͤck vor
Stuͤck von ihm Abſchied nehmen, und ihn
bedauren, daß er Koͤrper war und daß er ge-
ſtorben iſt. Ruͤhrend muß es dir ſeyn, lie-
ber Mond, ruͤhrend, ſo was zu ſehen, wenn
Geiſt und Leib ſich zuſammen finden, und ſich

nicht
O o 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0597" n="585"/>
kann&#x017F;t du auf mein Wort zu Zeugen rufen.<lb/>
Erhabener Todter! Man achtet das Leben<lb/>
nicht, wenn man dich &#x017F;iehet! O mo&#x0364;chte&#x017F;t du<lb/>
nicht verwe&#x017F;en! Du &#x017F;olte&#x017F;t ewig dazu dienen,<lb/>
den Furcht&#x017F;amen zu &#x017F;teifen, und jeden zu leh-<lb/>
ren, daß nicht jeder auf gleiche Wei&#x017F;e todt &#x017F;ey.<lb/>
Dir &#x017F;ieht man es an, daß du nicht aufho&#x0364;ren<lb/>
kann&#x017F;t, daß du nicht aufgeho&#x0364;ret ha&#x017F;t. Es<lb/>
&#x017F;tirbt nicht jeder auf gleiche Wei&#x017F;e, es lebt<lb/>
nicht jeder auf gleiche Art. Stiller Mond,<lb/>
dies große Grab empfehl&#x2019; ich dir! Du &#x017F;ieh&#x017F;t<lb/>
viel, was die Sonne nicht &#x017F;ieht, du bi&#x017F;t ein<lb/>
Sonntagskind und kann&#x017F;t Ge&#x017F;ichter &#x017F;ehen,<lb/>
die &#x017F;on&#x017F;t niemand zu &#x017F;ehen ver&#x017F;teht. Du &#x017F;ieh&#x017F;t<lb/>
fromme Gei&#x017F;ter, wenn &#x017F;ie um die Gra&#x0364;ber der<lb/>
Ihrigen wanken, die &#x017F;ie noch nicht in dem wei-<lb/>
ten Himmel aufgefunden haben, Du &#x017F;ieh&#x017F;t,<lb/>
wenn &#x017F;ie &#x017F;ich von ungefehr treffen; und wenn<lb/>
&#x017F;ie den himmli&#x017F;chen Bund machen &#x201E;wir la&#x017F;&#x017F;en<lb/>
uns nicht in Ewigkeit.&#x201C; &#x2014; Du &#x017F;ieh&#x017F;t erkennt-<lb/>
liche Gei&#x017F;ter, die ihren Ueberre&#x017F;t, ihren ver-<lb/>
we&#x017F;enden Ko&#x0364;rper, be&#x017F;uchen; die Stu&#x0364;ck vor<lb/>
Stu&#x0364;ck von ihm Ab&#x017F;chied nehmen, und ihn<lb/>
bedauren, daß er Ko&#x0364;rper war und daß er ge-<lb/>
&#x017F;torben i&#x017F;t. Ru&#x0364;hrend muß es dir &#x017F;eyn, lie-<lb/>
ber Mond, ru&#x0364;hrend, &#x017F;o was zu &#x017F;ehen, wenn<lb/>
Gei&#x017F;t und Leib &#x017F;ich zu&#x017F;ammen finden, und &#x017F;ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O o 5</fw><fw place="bottom" type="catch">nicht</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[585/0597] kannſt du auf mein Wort zu Zeugen rufen. Erhabener Todter! Man achtet das Leben nicht, wenn man dich ſiehet! O moͤchteſt du nicht verweſen! Du ſolteſt ewig dazu dienen, den Furchtſamen zu ſteifen, und jeden zu leh- ren, daß nicht jeder auf gleiche Weiſe todt ſey. Dir ſieht man es an, daß du nicht aufhoͤren kannſt, daß du nicht aufgehoͤret haſt. Es ſtirbt nicht jeder auf gleiche Weiſe, es lebt nicht jeder auf gleiche Art. Stiller Mond, dies große Grab empfehl’ ich dir! Du ſiehſt viel, was die Sonne nicht ſieht, du biſt ein Sonntagskind und kannſt Geſichter ſehen, die ſonſt niemand zu ſehen verſteht. Du ſiehſt fromme Geiſter, wenn ſie um die Graͤber der Ihrigen wanken, die ſie noch nicht in dem wei- ten Himmel aufgefunden haben, Du ſiehſt, wenn ſie ſich von ungefehr treffen; und wenn ſie den himmliſchen Bund machen „wir laſſen uns nicht in Ewigkeit.“ — Du ſiehſt erkennt- liche Geiſter, die ihren Ueberreſt, ihren ver- weſenden Koͤrper, beſuchen; die Stuͤck vor Stuͤck von ihm Abſchied nehmen, und ihn bedauren, daß er Koͤrper war und daß er ge- ſtorben iſt. Ruͤhrend muß es dir ſeyn, lie- ber Mond, ruͤhrend, ſo was zu ſehen, wenn Geiſt und Leib ſich zuſammen finden, und ſich nicht O o 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/597
Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/597>, abgerufen am 22.11.2024.