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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779.

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dies sein Gutes haben könnte. Das Sterb-
bette ist weit mehr, als das Grab, die Schule
der Weißheit, bemerkte der Prediger. Man
erlangt ein anschauendes Erkenntniß, wenn
man den Todten da sieht. Bein von meinem
Bein, Fleisch von meinem Fleisch. --

Sie nahm ein feyerliches Versprechen vom
Prediger, mir ihren Tod auf das aller, aller
genanste zu erzählen, ist er schrecklich, ist er
sanft! wie er war! Alles! alles! Ihm! Er
braucht Lebenslehren; wenn ich sie ihm zu-
rücklasse, so werden sie ihm, das weiß ich,
desto werther seyn! --

Einen Morgen -- die Sonne gieng un-
bewölkt auf -- war Mine schwächer als je.
Alle Fäserchen verloren ihre zusammenziehen-
de Kraft. Mine empfand diese Schwäche,
und dies bewog sie, Gretchen sehr zeitig zu
sich bitten zu lassen. Sie bat sie um Licht,
damit sie ihre Briefe zusiegeln könnte. Es
war das Tagebuch. Sie befahl Gretchen Gott
und seiner Huld und Gnade, und bat mich
tausendmal zu grüßen -- tausendmal und
mir dieses Pack, (sie gab es ihr,) und noch
andere Sachen, zu behändigen, in seine eigene
Hände! sagte sie, und eine Zähre floß sanft
ihre Wangen herab. -- Minens Aug' und

Herz
Zweiter Th. K k

dies ſein Gutes haben koͤnnte. Das Sterb-
bette iſt weit mehr, als das Grab, die Schule
der Weißheit, bemerkte der Prediger. Man
erlangt ein anſchauendes Erkenntniß, wenn
man den Todten da ſieht. Bein von meinem
Bein, Fleiſch von meinem Fleiſch. —

Sie nahm ein feyerliches Verſprechen vom
Prediger, mir ihren Tod auf das aller, aller
genanſte zu erzaͤhlen, iſt er ſchrecklich, iſt er
ſanft! wie er war! Alles! alles! Ihm! Er
braucht Lebenslehren; wenn ich ſie ihm zu-
ruͤcklaſſe, ſo werden ſie ihm, das weiß ich,
deſto werther ſeyn! —

Einen Morgen — die Sonne gieng un-
bewoͤlkt auf — war Mine ſchwaͤcher als je.
Alle Faͤſerchen verloren ihre zuſammenziehen-
de Kraft. Mine empfand dieſe Schwaͤche,
und dies bewog ſie, Gretchen ſehr zeitig zu
ſich bitten zu laſſen. Sie bat ſie um Licht,
damit ſie ihre Briefe zuſiegeln koͤnnte. Es
war das Tagebuch. Sie befahl Gretchen Gott
und ſeiner Huld und Gnade, und bat mich
tauſendmal zu gruͤßen — tauſendmal und
mir dieſes Pack, (ſie gab es ihr,) und noch
andere Sachen, zu behaͤndigen, in ſeine eigene
Haͤnde! ſagte ſie, und eine Zaͤhre floß ſanft
ihre Wangen herab. — Minens Aug’ und

Herz
Zweiter Th. K k
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[51[513]/0523] dies ſein Gutes haben koͤnnte. Das Sterb- bette iſt weit mehr, als das Grab, die Schule der Weißheit, bemerkte der Prediger. Man erlangt ein anſchauendes Erkenntniß, wenn man den Todten da ſieht. Bein von meinem Bein, Fleiſch von meinem Fleiſch. — Sie nahm ein feyerliches Verſprechen vom Prediger, mir ihren Tod auf das aller, aller genanſte zu erzaͤhlen, iſt er ſchrecklich, iſt er ſanft! wie er war! Alles! alles! Ihm! Er braucht Lebenslehren; wenn ich ſie ihm zu- ruͤcklaſſe, ſo werden ſie ihm, das weiß ich, deſto werther ſeyn! — Einen Morgen — die Sonne gieng un- bewoͤlkt auf — war Mine ſchwaͤcher als je. Alle Faͤſerchen verloren ihre zuſammenziehen- de Kraft. Mine empfand dieſe Schwaͤche, und dies bewog ſie, Gretchen ſehr zeitig zu ſich bitten zu laſſen. Sie bat ſie um Licht, damit ſie ihre Briefe zuſiegeln koͤnnte. Es war das Tagebuch. Sie befahl Gretchen Gott und ſeiner Huld und Gnade, und bat mich tauſendmal zu gruͤßen — tauſendmal und mir dieſes Pack, (ſie gab es ihr,) und noch andere Sachen, zu behaͤndigen, in ſeine eigene Haͤnde! ſagte ſie, und eine Zaͤhre floß ſanft ihre Wangen herab. — Minens Aug’ und Herz Zweiter Th. K k

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 2. Berlin, 1779, S. 51[513]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe02_1779/523>, abgerufen am 22.11.2024.