Hilty, Carl: Frauenstimmrecht. In: Hilty, Carl (Hg.): Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Bern, 1897.Frauenstimmrecht.
sogar ganz stammverwandter, Völker entstanden, die nochheute vor Augen liegt. Die Einen haben eine lange frei- heitliche Geschichte hinter sich, die Anderen sind in der Un- freiheit, oder sogar in der Unterdrückung erzogen worden, und man wirft ihnen nachher, wenn sie plötzlich befreit wurden, ungerechter Weise vor, dass sie sich nicht sofort selbst regieren können1). Genau so verhält es sich mit den sogenannten natürlichen Beweisen zum Nachtheil der Frauen. Wenigstens die Anhänger Darwin's sollten es offen bekennen, dass der Nichtgebrauch von Fähigkeiten auch den völligen Verlust derselben nach sich ziehen kann und dass umgekehrt aus geringen Anfängen unter günstigen Verhältnissen höhere Organismen entstehen können. Für uns ist das kein Argument. Wir halten dafür, 1) Das ist die Geschichte der jetzigen Armenier zum Beispiel.
Es ist wunderbar, dass die türkischen Rajah nicht sämmtlich noch viel geringwerthiger sind. Selbst in der Schweiz sind die Unterschiede in der Bevölkerung der alten 13 Orte und der ehemaligen Unter- thanenländer noch einigermassen bemerkbar. Die Freiheit und das Bewusstsein einer würdigen Rechtsstellung ist eben ein sehr grosses und sogar unentbehrliches Erziehungsmittel der Völker und thut nach Pasquale Paoli grössere Wunder, als selbst der heilige Antonius von Padua, bekanntlich einer der am schnellsten Heiliggesprochenen. Man müsste also zuerst, um ganz gerecht und aufrichtig urtheilen zu können, einmal einen bedeutenderen Staat sehen, in welchem die Frauen seit wenigstens einem halben Jahrhundert rechtsgleich gewesen wären. Diesen Beweis führt bisher aber, wie wir noch sehen werden, nur Amerika und in noch viel zu kleinen Ver- hältnissen. Frauenstimmrecht.
sogar ganz stammverwandter, Völker entstanden, die nochheute vor Augen liegt. Die Einen haben eine lange frei- heitliche Geschichte hinter sich, die Anderen sind in der Un- freiheit, oder sogar in der Unterdrückung erzogen worden, und man wirft ihnen nachher, wenn sie plötzlich befreit wurden, ungerechter Weise vor, dass sie sich nicht sofort selbst regieren können1). Genau so verhält es sich mit den sogenannten natürlichen Beweisen zum Nachtheil der Frauen. Wenigstens die Anhänger Darwin's sollten es offen bekennen, dass der Nichtgebrauch von Fähigkeiten auch den völligen Verlust derselben nach sich ziehen kann und dass umgekehrt aus geringen Anfängen unter günstigen Verhältnissen höhere Organismen entstehen können. Für uns ist das kein Argument. Wir halten dafür, 1) Das ist die Geschichte der jetzigen Armenier zum Beispiel.
Es ist wunderbar, dass die türkischen Rajah nicht sämmtlich noch viel geringwerthiger sind. Selbst in der Schweiz sind die Unterschiede in der Bevölkerung der alten 13 Orte und der ehemaligen Unter- thanenländer noch einigermassen bemerkbar. Die Freiheit und das Bewusstsein einer würdigen Rechtsstellung ist eben ein sehr grosses und sogar unentbehrliches Erziehungsmittel der Völker und thut nach Pasquale Paoli grössere Wunder, als selbst der heilige Antonius von Padua, bekanntlich einer der am schnellsten Heiliggesprochenen. Man müsste also zuerst, um ganz gerecht und aufrichtig urtheilen zu können, einmal einen bedeutenderen Staat sehen, in welchem die Frauen seit wenigstens einem halben Jahrhundert rechtsgleich gewesen wären. Diesen Beweis führt bisher aber, wie wir noch sehen werden, nur Amerika und in noch viel zu kleinen Ver- hältnissen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0011" n="251"/><fw place="top" type="header">Frauenstimmrecht.</fw> sogar ganz stammverwandter, Völker entstanden, die noch<lb/> heute vor Augen liegt. Die Einen haben eine lange frei-<lb/> heitliche Geschichte hinter sich, die Anderen sind in der Un-<lb/> freiheit, oder sogar in der Unterdrückung erzogen worden,<lb/> und man wirft ihnen nachher, wenn sie plötzlich befreit<lb/> wurden, ungerechter Weise vor, dass sie sich nicht <hi rendition="#g">sofort</hi><lb/> selbst regieren können<note place="foot" n="1)">Das ist die Geschichte der jetzigen Armenier zum Beispiel.<lb/> Es ist wunderbar, dass die türkischen Rajah nicht sämmtlich noch<lb/> viel geringwerthiger sind. Selbst in der Schweiz sind die Unterschiede<lb/> in der Bevölkerung der alten 13 Orte und der ehemaligen Unter-<lb/> thanenländer noch einigermassen bemerkbar. Die Freiheit und das<lb/> Bewusstsein einer würdigen Rechtsstellung ist eben ein sehr grosses<lb/> und sogar unentbehrliches Erziehungsmittel der Völker und thut nach<lb/> Pasquale Paoli grössere Wunder, als selbst der heilige Antonius von<lb/> Padua, bekanntlich einer der am schnellsten Heiliggesprochenen.<lb/> Man müsste also zuerst, um ganz gerecht und aufrichtig urtheilen<lb/> zu können, einmal einen bedeutenderen Staat <hi rendition="#g">sehen</hi>, in welchem<lb/> die Frauen seit wenigstens einem halben Jahrhundert rechtsgleich<lb/> gewesen wären. Diesen Beweis führt bisher aber, wie wir noch<lb/> sehen werden, nur Amerika und in noch viel zu kleinen Ver-<lb/> hältnissen.</note>. Genau so verhält es sich mit den<lb/> sogenannten natürlichen Beweisen zum Nachtheil der Frauen.<lb/> Wenigstens die Anhänger Darwin's sollten es offen bekennen,<lb/> dass der Nichtgebrauch von Fähigkeiten auch den völligen<lb/> Verlust derselben nach sich ziehen kann und dass umgekehrt<lb/> aus geringen Anfängen unter günstigen Verhältnissen höhere<lb/> Organismen entstehen können.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Für uns</hi> ist das kein Argument. <hi rendition="#g">Wir</hi> halten dafür,<lb/> es komme bei jedem Menschen, heisse er Mann oder Weib,<lb/> auf die individuelle Begabung seitens Gottes, und in höchster<lb/> Stufe auf die Möglichkeit der Einwohnung eines Geistes an,<lb/> der nicht in jedem Sinne der unserige ist. Dass derselbe nur<lb/> an das männliche Geschlecht sich binde, das ist, trotz der<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [251/0011]
Frauenstimmrecht.
sogar ganz stammverwandter, Völker entstanden, die noch
heute vor Augen liegt. Die Einen haben eine lange frei-
heitliche Geschichte hinter sich, die Anderen sind in der Un-
freiheit, oder sogar in der Unterdrückung erzogen worden,
und man wirft ihnen nachher, wenn sie plötzlich befreit
wurden, ungerechter Weise vor, dass sie sich nicht sofort
selbst regieren können 1). Genau so verhält es sich mit den
sogenannten natürlichen Beweisen zum Nachtheil der Frauen.
Wenigstens die Anhänger Darwin's sollten es offen bekennen,
dass der Nichtgebrauch von Fähigkeiten auch den völligen
Verlust derselben nach sich ziehen kann und dass umgekehrt
aus geringen Anfängen unter günstigen Verhältnissen höhere
Organismen entstehen können.
Für uns ist das kein Argument. Wir halten dafür,
es komme bei jedem Menschen, heisse er Mann oder Weib,
auf die individuelle Begabung seitens Gottes, und in höchster
Stufe auf die Möglichkeit der Einwohnung eines Geistes an,
der nicht in jedem Sinne der unserige ist. Dass derselbe nur
an das männliche Geschlecht sich binde, das ist, trotz der
1) Das ist die Geschichte der jetzigen Armenier zum Beispiel.
Es ist wunderbar, dass die türkischen Rajah nicht sämmtlich noch
viel geringwerthiger sind. Selbst in der Schweiz sind die Unterschiede
in der Bevölkerung der alten 13 Orte und der ehemaligen Unter-
thanenländer noch einigermassen bemerkbar. Die Freiheit und das
Bewusstsein einer würdigen Rechtsstellung ist eben ein sehr grosses
und sogar unentbehrliches Erziehungsmittel der Völker und thut nach
Pasquale Paoli grössere Wunder, als selbst der heilige Antonius von
Padua, bekanntlich einer der am schnellsten Heiliggesprochenen.
Man müsste also zuerst, um ganz gerecht und aufrichtig urtheilen
zu können, einmal einen bedeutenderen Staat sehen, in welchem
die Frauen seit wenigstens einem halben Jahrhundert rechtsgleich
gewesen wären. Diesen Beweis führt bisher aber, wie wir noch
sehen werden, nur Amerika und in noch viel zu kleinen Ver-
hältnissen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/hilty_frauenstimmrecht_1897 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/hilty_frauenstimmrecht_1897/11 |
Zitationshilfe: | Hilty, Carl: Frauenstimmrecht. In: Hilty, Carl (Hg.): Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Bern, 1897, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilty_frauenstimmrecht_1897/11>, abgerufen am 16.07.2024. |