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Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900.

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mathematische Probleme.

Auch für unendliche Gruppen ist, wie ich glaube, die Unter-
suchung der entsprechenden Frage von Interesse. Ueberhaupt
werden wir auf das weite und nicht uninteressante Feld der Func-
tionalgleichungen geführt, die bisher meist nur unter der Voraus-
setzung der Differenzirbarkeit der auftretenden Functionen unter-
sucht worden sind. Insbesondere die von Abel 1) mit so vielem
Scharfsinn behandelten Functionalgleichungen, die Differenzenglei-
chungen und andere in der Litteratur vorkommende Gleichungen
weisen an sich nichts auf, was zur Forderung der Differenzirbar-
keit der auftretenden Functionen zwingt, und bei gewissen Exi-
stenzbeweisen in der Variationsrechnung fiel mir direkt die Auf-
gabe zu, aus dem Bestehen einer Differenzengleichung die Diffe-
renzirbarkeit der betrachteten Function beweisen zu müssen. In
allen diesen Fällen erhebt sich daher die Frage, inwieweit etwa die
Aussagen, die wir im Falle der Annahme differenzirbarer Functionen
machen können, unter geeigneten Modifikationen ohne diese Voraus-
setzung gültig sind
.

Bemerkt sei noch, daß H. Minkowski in seiner vorhin ge-
nannten "Geometrie der Zahlen" von der Functionalungleichung
[Formel 1] ausgeht und aus dieser in der That die Existenz gewisser Diffe-
rentialquotienten für die in Betracht kommenden Functionen zu
beweisen vermag.

Andererseits hebe ich hervor, daß es sehr wohl analytische
Functionalgleichungen giebt, deren einzige Lösungen nichtdiffe-
renzirbare Functionen sind. Beispielsweise kann man eine eindeu-
tige stetige nichtdifferenzirbare Function ph (x) construiren, die die
einzige Lösung zweier Functionalgleichungen
ph (x + a) -- ph (x) = f (x),
ph (x + b) -- ph (x) = 0
darstellt, wo a, b zwei reelle Zahlen und f (x) eine für alle reellen
Werte von x reguläre analytische eindeutige Function bedeutet.
Man gelangt am einfachsten zu solchen Functionen mit Hülfe
trigonometrischer Reihen durch einen ähnlichen Gedanken, wie ihn
Borel nach einer jüngsten Mitteilung von Picard 2) zur Construc-
tion einer doppelperiodischen nichtanalytischen Lösung einer ge-
wissen analytischen partiellen Differentialgleichung benutzt hat.

1) Werke, Bd. 1 S. 1, 61, 389.
2) Quelques theories fondamentales dans l'analyse mathematique. Confe-
rences faites a Clark-University. Revue generale des Sciences 1900. S. 22.
mathematische Probleme.

Auch für unendliche Gruppen ist, wie ich glaube, die Unter-
suchung der entsprechenden Frage von Interesse. Ueberhaupt
werden wir auf das weite und nicht uninteressante Feld der Func-
tionalgleichungen geführt, die bisher meist nur unter der Voraus-
setzung der Differenzirbarkeit der auftretenden Functionen unter-
sucht worden sind. Insbesondere die von Abel 1) mit so vielem
Scharfsinn behandelten Functionalgleichungen, die Differenzenglei-
chungen und andere in der Litteratur vorkommende Gleichungen
weisen an sich nichts auf, was zur Forderung der Differenzirbar-
keit der auftretenden Functionen zwingt, und bei gewissen Exi-
stenzbeweisen in der Variationsrechnung fiel mir direkt die Auf-
gabe zu, aus dem Bestehen einer Differenzengleichung die Diffe-
renzirbarkeit der betrachteten Function beweisen zu müssen. In
allen diesen Fällen erhebt sich daher die Frage, inwieweit etwa die
Aussagen, die wir im Falle der Annahme differenzirbarer Functionen
machen können, unter geeigneten Modifikationen ohne diese Voraus-
setzung gültig sind
.

Bemerkt sei noch, daß H. Minkowski in seiner vorhin ge-
nannten „Geometrie der Zahlen“ von der Functionalungleichung
[Formel 1] ausgeht und aus dieser in der That die Existenz gewisser Diffe-
rentialquotienten für die in Betracht kommenden Functionen zu
beweisen vermag.

Andererseits hebe ich hervor, daß es sehr wohl analytische
Functionalgleichungen giebt, deren einzige Lösungen nichtdiffe-
renzirbare Functionen sind. Beispielsweise kann man eine eindeu-
tige stetige nichtdifferenzirbare Function φ (x) construiren, die die
einzige Lösung zweier Functionalgleichungen
φ (x + α) — φ (x) = f (x),
φ (x + β) — φ (x) = 0
darstellt, wo α, β zwei reelle Zahlen und f (x) eine für alle reellen
Werte von x reguläre analytische eindeutige Function bedeutet.
Man gelangt am einfachsten zu solchen Functionen mit Hülfe
trigonometrischer Reihen durch einen ähnlichen Gedanken, wie ihn
Borel nach einer jüngsten Mitteilung von Picard 2) zur Construc-
tion einer doppelperiodischen nichtanalytischen Lösung einer ge-
wissen analytischen partiellen Differentialgleichung benutzt hat.

1) Werke, Bd. 1 S. 1, 61, 389.
2) Quelques théories fondamentales dans l’analyse mathématique. Confé-
rénces faites à Clark-University. Revue générale des Sciences 1900. S. 22.
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[271/0027] mathematische Probleme. Auch für unendliche Gruppen ist, wie ich glaube, die Unter- suchung der entsprechenden Frage von Interesse. Ueberhaupt werden wir auf das weite und nicht uninteressante Feld der Func- tionalgleichungen geführt, die bisher meist nur unter der Voraus- setzung der Differenzirbarkeit der auftretenden Functionen unter- sucht worden sind. Insbesondere die von Abel 1) mit so vielem Scharfsinn behandelten Functionalgleichungen, die Differenzenglei- chungen und andere in der Litteratur vorkommende Gleichungen weisen an sich nichts auf, was zur Forderung der Differenzirbar- keit der auftretenden Functionen zwingt, und bei gewissen Exi- stenzbeweisen in der Variationsrechnung fiel mir direkt die Auf- gabe zu, aus dem Bestehen einer Differenzengleichung die Diffe- renzirbarkeit der betrachteten Function beweisen zu müssen. In allen diesen Fällen erhebt sich daher die Frage, inwieweit etwa die Aussagen, die wir im Falle der Annahme differenzirbarer Functionen machen können, unter geeigneten Modifikationen ohne diese Voraus- setzung gültig sind. Bemerkt sei noch, daß H. Minkowski in seiner vorhin ge- nannten „Geometrie der Zahlen“ von der Functionalungleichung [FORMEL] ausgeht und aus dieser in der That die Existenz gewisser Diffe- rentialquotienten für die in Betracht kommenden Functionen zu beweisen vermag. Andererseits hebe ich hervor, daß es sehr wohl analytische Functionalgleichungen giebt, deren einzige Lösungen nichtdiffe- renzirbare Functionen sind. Beispielsweise kann man eine eindeu- tige stetige nichtdifferenzirbare Function φ (x) construiren, die die einzige Lösung zweier Functionalgleichungen φ (x + α) — φ (x) = f (x), φ (x + β) — φ (x) = 0 darstellt, wo α, β zwei reelle Zahlen und f (x) eine für alle reellen Werte von x reguläre analytische eindeutige Function bedeutet. Man gelangt am einfachsten zu solchen Functionen mit Hülfe trigonometrischer Reihen durch einen ähnlichen Gedanken, wie ihn Borel nach einer jüngsten Mitteilung von Picard 2) zur Construc- tion einer doppelperiodischen nichtanalytischen Lösung einer ge- wissen analytischen partiellen Differentialgleichung benutzt hat. 1) Werke, Bd. 1 S. 1, 61, 389. 2) Quelques théories fondamentales dans l’analyse mathématique. Confé- rénces faites à Clark-University. Revue générale des Sciences 1900. S. 22.

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Zitationshilfe: Hilbert, David: Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. Göttingen, 1900, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hilbert_mathematische_1900/27>, abgerufen am 27.11.2024.