Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.reihten Effectscenen sich fortbewegenden Manier zurückführen lasse. "Es war", sagt sie, "im Jahre 1844, als der alte "Constitutionnel" sich verjüngte, indem er zum großen Format überging. Seitdem besaßen Alexander Dumas und Eugene Sue im höchsten Grade die Kunst, jedes Kapitel mit einer spannenden Peripetie zu schließen, die den Leser beständig in Athem erhalten und zur ungeduldigsten Neugier stacheln sollte. Das war nicht das Talent Balzac's und noch weniger das meine. Balzac, dessen Geist mehr von einem Mittelpunkt aus zu entwickeln liebte, ich, mehr von einem langsamen und träumerischen Charakter, wir konnten nicht daran denken, mit dieser an Erfindung von Begebenheiten und Häufung von Intriguen unerschöpflichen Phantasie zu wetteifern." -- -- Sagen wir es mit einem Wort: dem Roman wie der Novelle ist heutzutage die epische Ruhe des Stils mehr oder weniger verloren gegangen, die in den Mustern der Gattung bei den romanischen Völkern so großen Reiz übt und dem, was unser deutscher Großmeister der Erzähungskunst geschaffen, unvergänglichen Werth verleiht. Aber wenn wir diese Thatsache mit unverhohlenem Bedauern erkennen, sind wir doch von der Meinung fern, als ob die Novelle nothwendig "umkehren" und um jeden Preis die edle Einfalt und klassische Mäßigung zurückgewinnen müsse, die sie reihten Effectscenen sich fortbewegenden Manier zurückführen lasse. „Es war“, sagt sie, „im Jahre 1844, als der alte „Constitutionnel“ sich verjüngte, indem er zum großen Format überging. Seitdem besaßen Alexander Dumas und Eugène Sue im höchsten Grade die Kunst, jedes Kapitel mit einer spannenden Peripetie zu schließen, die den Leser beständig in Athem erhalten und zur ungeduldigsten Neugier stacheln sollte. Das war nicht das Talent Balzac's und noch weniger das meine. Balzac, dessen Geist mehr von einem Mittelpunkt aus zu entwickeln liebte, ich, mehr von einem langsamen und träumerischen Charakter, wir konnten nicht daran denken, mit dieser an Erfindung von Begebenheiten und Häufung von Intriguen unerschöpflichen Phantasie zu wetteifern.“ — — Sagen wir es mit einem Wort: dem Roman wie der Novelle ist heutzutage die epische Ruhe des Stils mehr oder weniger verloren gegangen, die in den Mustern der Gattung bei den romanischen Völkern so großen Reiz übt und dem, was unser deutscher Großmeister der Erzähungskunst geschaffen, unvergänglichen Werth verleiht. Aber wenn wir diese Thatsache mit unverhohlenem Bedauern erkennen, sind wir doch von der Meinung fern, als ob die Novelle nothwendig „umkehren“ und um jeden Preis die edle Einfalt und klassische Mäßigung zurückgewinnen müsse, die sie <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0013" n="XIII"/> reihten Effectscenen sich fortbewegenden Manier zurückführen lasse. „Es war“, sagt sie, „im Jahre 1844, als der alte „Constitutionnel“ sich verjüngte, indem er zum großen Format überging. Seitdem besaßen Alexander Dumas und Eugène Sue im höchsten Grade die Kunst, jedes Kapitel mit einer spannenden Peripetie zu schließen, die den Leser beständig in Athem erhalten und zur ungeduldigsten Neugier stacheln sollte. Das war nicht das Talent Balzac's und noch weniger das meine. Balzac, dessen Geist mehr von einem Mittelpunkt aus zu entwickeln liebte, ich, mehr von einem langsamen und träumerischen Charakter, wir konnten nicht daran denken, mit dieser an Erfindung von Begebenheiten und Häufung von Intriguen unerschöpflichen Phantasie zu wetteifern.“ — —</p> <p>Sagen wir es mit einem Wort: dem Roman wie der Novelle ist heutzutage die <hi rendition="#g">epische Ruhe</hi> des Stils mehr oder weniger verloren gegangen, die in den Mustern der Gattung bei den romanischen Völkern so großen Reiz übt und dem, was unser deutscher Großmeister der Erzähungskunst geschaffen, unvergänglichen Werth verleiht.</p> <p>Aber wenn wir diese Thatsache mit unverhohlenem Bedauern erkennen, sind wir doch von der Meinung fern, als ob die Novelle nothwendig „umkehren“ und um jeden Preis die edle Einfalt und klassische Mäßigung zurückgewinnen müsse, die sie<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [XIII/0013]
reihten Effectscenen sich fortbewegenden Manier zurückführen lasse. „Es war“, sagt sie, „im Jahre 1844, als der alte „Constitutionnel“ sich verjüngte, indem er zum großen Format überging. Seitdem besaßen Alexander Dumas und Eugène Sue im höchsten Grade die Kunst, jedes Kapitel mit einer spannenden Peripetie zu schließen, die den Leser beständig in Athem erhalten und zur ungeduldigsten Neugier stacheln sollte. Das war nicht das Talent Balzac's und noch weniger das meine. Balzac, dessen Geist mehr von einem Mittelpunkt aus zu entwickeln liebte, ich, mehr von einem langsamen und träumerischen Charakter, wir konnten nicht daran denken, mit dieser an Erfindung von Begebenheiten und Häufung von Intriguen unerschöpflichen Phantasie zu wetteifern.“ — —
Sagen wir es mit einem Wort: dem Roman wie der Novelle ist heutzutage die epische Ruhe des Stils mehr oder weniger verloren gegangen, die in den Mustern der Gattung bei den romanischen Völkern so großen Reiz übt und dem, was unser deutscher Großmeister der Erzähungskunst geschaffen, unvergänglichen Werth verleiht.
Aber wenn wir diese Thatsache mit unverhohlenem Bedauern erkennen, sind wir doch von der Meinung fern, als ob die Novelle nothwendig „umkehren“ und um jeden Preis die edle Einfalt und klassische Mäßigung zurückgewinnen müsse, die sie
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Zitationshilfe: | Heyse, Paul; Kurz, Hermann: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. V–XXIV. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. XIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heysekurz_einleitung_1871/13>, abgerufen am 03.07.2024. |